Vorzeitige Schulentlassungen

in der Gemeinde Sieglar 1905 und 1920

von Sven Le. und Florian Do.

Eine Schulpflicht im Sinne von Unterrichtspflicht wurde in Deutschland erstmals 1717 in Preußen eingeführt. Dies hatte zur Folge, daß Kinder mit Vollendung ihres sechsten Lebensjahr, wenn sie nicht von einem Hauslehrer unterrichtet wurden oder ein Internat besuchten, die Volksschule bis zu ihrem vollendeten 14. Lebensjahr besuchen mußten. Die Einführung der Schulpflicht stand den Interessen der Industrie gegenüber, denen nun in der Produktion die Kinder als Niedriglohnarbeiter fehlten. Ebenfalls machte sich das Ausbleiben der Gehälter der Kinder bei vielen Familien bemerkbar, als daß nun oftmals nur noch der Familienvater als verdienende Person übrigblieb.

Kam nun eine Familie in finanzielle Not konnte, ein Antrag auf vorzeitige Schulentlassung gestellt werden. Die Befreiung eines Kindes von der Schulpflicht bedeutete, daß eine weitere Person aus der Familie Geld verdienen konnte und so der Familie geholfen werden konnte.

Wir haben uns die Anträge, die in der Gemeinde Sieglar im Jahre 1905 und 1920 gestellt wurden, angesehen und diese miteinander verglichen.

Vorzeitige Schulentlassungen in Sieglar im Jahre 1905

Anträge auf vorzeitige Schulentlassung konnten natürlich nicht jederzeit gestellt werden; eine Bekanntmachung des Sieglarer Bürgermeisters im Februar 1905 regelte genau, wer einen Antrag stellen durfte:

"Ich bemerke hierbei, daß von mir diejenigen Anträge berücksichtigt werden können, die für Schüler gestellt werden, welche bis zum 1. April des Jahres [1905] , das 13. Lebensjahr vollendet [haben](...)"

Ebenso war festgelegt, bei welchen Gründen ein positiver Entscheid zu treffen war:

"(...) und zur Wartung kranker Familienangehöriger oder kleiner Geschwister reklamiert werden"

Weiterhin mußten die Gesuche Namen, Stand und Alter der Eltern, ob Vermögen vorhanden ist, und woraus dasselbe besteht enthalten. Ferner Name, Geburtsdatum sowie etwaige Berufstätigkeiten sämtlich vorhandener Geschwister. Unvollständige Ersuche sollten abgelehnt werden.

Im Jahr 1905 wurde für knapp 14 % der 179 in frage kommenden Kinder ein entsprechenden Antrag gestellt. Von diesen 25 Anträgen wurden 17 angenommen und 8 abgelehnt. Exemplarisch sollen ein abgelehnter und ein angenommener Antrag vorgestellt werden.

Der Antrag für die Schülerin Johanna Pütz (geb. 16.9.1891), geschrieben am 21.2.1905, wurde dadurch begründet, daß ihre Mutter „zur Zeit sehr viel leidend“ sei, und sie zu Hause deshalb „im großen Haushalt sehr nützlich und behilflich“ sei. Die Namen aller Familienmitglieder (Johanna hatte noch drei Geschwister; einen älteren Bruder, sowie zwei jüngere Schwestern) und deren Geburtsdaten waren im Gesuch enthalten. Was fehlte, waren Angaben über den Stand der Eltern, deren Vermögen, sowie die berufliche Tätigkeit des älteren Bruders, so daß eine Notlage der Familie nicht ersichtlich war, bzw. diese nicht nachgewiesen werden konnte. Entsprechend der Bekanntmachung des Bürgermeisters wurde dieser Antrag als „nicht begründet gefunden und deshalb abgelehnt“.

Im Gegensatz dazu konnten der Fabrikarbeiter Johann Schuhmacher eine finanzielle Notsituation nachweisen. Der Entlassungsantrag seines Sohn Joseph Schuhmachers begründet er dadurch, daß er, auf Grund eines Arbeitsunfalles, bei dem er sich eine Quetschung der Brust zuzog, nur bedingt arbeitsfähig sei, und er kein Vermögen besitze. Da er die einzige verdienende Person in einem 7köpfigen Haushalt sei, und ferner noch den Krankenhausaufenthalt seines Vaters bezahlen müsse, sei die Familie auf die Freistellung seines Sohnes und dessen womöglichen Einkünfte angewiesen. Alle Namen und Geburtsdaten der Familienangehörigen waren beigefügt. Es waren also alle Voraussetzungen erfüllt.

Der Antrag wurde von dem Schulvorstand als begründet gewertet, und Joseph Schuhmacher konnte ein Jahr früher, als es die allgemeine Schulpflicht vorsah, die Volksschule verlassen.

Vorzeitige Schulentlassungen in Sieglar im Jahre 1920

Am 26. Januar 1920 erschien in Köln, ausgehend vom Regierungspräsidenten, eine Bestimmung, die besagte, daß Schüler trotz schlechten Zeugnisses vorzeitig, d.h. im Alter von 13 Jahren, entlassen werden konnten, da der Krieg sie negativ beeinflußt haben könnte und daß generell innerhalb des Schuljahres keine Entlassungen vorgenommen werden durften, außer in besonderen Ausnahmefällen.

Im Jahr 1920 besuchten etwa 1600 Schüler ( d.h. etwa 200 Schüler pro Jahrgang ) die Volksschulen der Gemeinde Sieglar. Von diesen Schülern wurden in demselben Jahr 158 vorzeitig entlassen.

Von diesen Schülern haben wir uns drei Beispiele herausgegriffen, um an ihnen einzelne Schicksale zu erläutern.

Uwe Wilhelm Assenmacher, geboren 1907, wohnhaft in Spich. Sein Vater verstarb 1917 als Soldat im 1.Welrkrieg und hinterließ sechs unmündige Kinder. Der älteste Sohn Peter war als einziger schon aus der Schule entlassen und somit alleiniger Geldverdiener. Von den anderen fünf Kindern waren drei noch nicht schulpflichtig, so daß die Mutter sich verstärkt um diese kümmern musste. Uwe Wilhelm sollte aus der Schule entlassen werden, um den Haushalt finanziell zu unterstützen.

Dem Antrag wurde trotz mittelmässigen Abschlußzeugnisses stattgegeben und U.W. wurde im Alter von 13 Jahren aus der Schule entlassen.

Josef Sterzenbach, geboren 1907, wohnhaft in Oberlar. Der Vater war im 1.Weltkrieg gefallen und Josef sollte zur Erhaltung der Familie (7 Personen) beitragen, da die Familie durch mehrere Operationen des jüngsten Kindes hoch verschuldet war. Trotz schlechten Zeugnisses wurde dem Antrag stattgegeben.

Antonius Dresbach, geboren 1907, wohnhaft in Sieglar. Zum Zeitpunkt des Antrages war der Vater bereits verstorben und die Mutter litt an Gicht. Neben Antonius lebten noch fünf weitere Kinder in dem Haushalt, von denen vier als Fabrikarbeiter (Mannstaedt-Werke in Troisdorf) tätig waren. Die jüngste Tochter unterstützte die kranke Mutter im Haushalt. Dem Antrag wurde trotz guten Zeugnisses ( u.a. Rechtschreibung: „sehr gut“ ) nicht stattgegeben, da nach Meinung der zuständigen Behörde kein dringender Notstand vorhanden war.

Zusammenfassung:

Um einen Vergleich zwischen den Jahren 1905 und 1920 ziehen zu können, muß man zusätzlich die jeweilige wirtschaftliche Situation in Deutschland in Anbetracht ziehen. 1905 war Deutschland wirtschaftlich in einer guten Situation: die Arbeitslosenzahl war niedrig und es herrschte eine beständige Konjunktur. 1920 war Deutschland durch die Folgen des ersten Weltkrieges (Ruhrgebietsbesetzung, sowie die Lasten des Versailler Vertrages) wirtschaftlich stark geschwächt. Dies spiegelt sich auch in der Anzahl der Anträge auf vorzeitige Schulentlassung wieder. Waren es 1905 nur 14% der in Frage kommenden Schüler, für die ein Antrag gestellt wurde, so wurden 1920 für 81% ein entsprechender Antrag gestellt. 1905 wurden 68% der Anträge für berechtigt erklärt, 1920 82% der Anträge. Vergleicht man diese Werte, so sieht man, daß Familien 1920 in einem wesentlich größeren Maß Hilfe benötigten. Es muß aber auch bemerkt werden, daß vielen der frühzeitig Entlassenen Aufstiegsmöglichkeiten im späteren Berufsleben genommen wurden, was daran zu erkennen ist, daß viele der entlassenen Kinder ihr ganzes Leben als einfache Arbeiter tätig waren.

Quellen:

Archiv der Stadt Troisdorf:

Vorzeitige Schulentlassungen 1904 - 1908, Bestand B Nr. 126

Vorzeitige Schulentlassungen 1917 - 1926, Bestand B Nr. 128