Der Weg in den Abgrund: 1933

(General-Anzeiger Bonn/Rhein-Sieg, 2003)

 

Folge 1: 15. Februar 1933 [Volkshaus] 

Folge 2: 22. Februar 1933 [Listen] 

Folge 3: 28.Februar 1933 [Schutzhaft] 

Folge 4: 9.März 1933 [jüdische Geschäfte] 

Folge 5: 12. März 1933 [Gemeindewahl] 

Folge 6: 4.April 1933 [Gemeinderat] 

Folge 7: 21.April 1933 [Leserbrief] 

Folge 8: 12.Mai 1933 [Rücktritt von Bürgermeister Langen] 

Folge 9: 14. Juli 1933 [Euthanasie] 

Folge 10: 05.12. 1933 [SA-Heim] 

 

Vor 70 Jahren, zwischen dem 30. Januar und dem Herbst 1933, rissen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland an sich. Dies geschah in kleinen, schnellen Schritten, die die Gegner oder Zweifler überrumpelten. Am 30. Januar war Hitler noch Reichskanzler in einer Koalitionsregierung, ausser ihm gehörten an diesem Tag nur zwei Minister der Reichregierung an; am Jahresende waren

tausende Menschen ermordet,  

tausende Menschen aus Deutschland verjagt,  

tausende Menschen in Deutschland im illegalen Untergund, 

die Parlamente in Reich, in den Ländern und in den Gemeinden entmachtet,  

die Grundrechte ausser Kraft gesetzt, 

alle anderen Parteien ausser Hitlers NSDAP verboten, 

politisch anders Denkende eingeschüchtert oder mundtot gemacht. 

In unserer Serie 1933-2003 wollen wir an Hand von Episoden aus dem Alltag – überwiegend der damaligen Gemeinde Troisdorf – an diese Zeit erinnern. Manche Ereignisse haben sich anderswo ähnlich zugetragen.

Als die Nazis die Kommunisten holten,

habe ich geschwiegen;

ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten;

habe ich geschwiegen;

ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,

habe ich geschwiegen;

ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie die Juden holten,

habe ich geschwiegen;

ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten,

gab es keinen mehr,

der protestieren konnte.

(Martin Niemöller)

 

1. Folge: 15. Februar 1933 [Volkshaus]

In den frühen Morgenstunden des 15. Februar 1933, gegen 2:30 Uhr,  fallen an dem „Volkshaus“ in der Siegburger Kaiserstrasse Schüsse. Von der gegenüberliegenden Tankstelle feuern SA und SS; aus dem Haus, das dem Metallarbeiterverband gehört und in dem auch Räume des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und der SPD sind, schiessen Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Bei diesem Schusswechsel traf eine Kugel den SS-Scharführer und Anstreichergehilfen Franz Müller tödlich. Unmittelbar danach werden die 16 Männer, die sich im Volkshaus befinden, von der Polizei festgenommen; im Volkshaus wurden 1 Karabiner, 3 Pistolen sowie Munition sichergestellt.

Der Bruder des Getöteten, Emil Müller, ferner Johann Ke. und ein dritter Nazi machen sich am Vormittag des 15. Februar zu einem privaten Rachefeldzug in Siegburg auf. In SA-Uniform suchen sie im Arbeitsamt nach dem stellvertretenden Leiter, Fl. (SPD), finden ihn aber nicht und verabschieden sich mit den Worten: "Der Kerl hat Glück gehabt, dass er nicht da ist!"

Anschliessend, gegen 11. 30 Uhr, fragen sie sich im Landratsamt (=Kreisverwaltung) durch nach dem Kreisbauamtssekretär Josef Ka., dem Vorsitzenden der Troisdorfer SPD. Im Zimmer seines Vorgesetzten, des Kreisbaurates Heinrich B., finden sie ihn schliesslich. Wortlos schlagen sie sofort mit Gummiknüppeln auf Ka. ein und verlassen dann ebenso wortlos den Raum.

Mit zwei weiteren Nazis dringen Ke. und Müller in die Wohnungen der Gewerkschaftssekretäre Berghold (Steinbahn) und Klein (Dohkaule) ein und zetteln Schlägereien an; Schüsse fallen.

Nach diesen Vorfällen werden Ke. und Müller zunächst festgenommen, gegen Ke. ergeht Haftbefehl, Müller wird bald wieder freigelassen.

Ka. wird in das Troisdorfer Krankenhaus eingeliefert. Aus dem Siegburger Krankenhaus wird er am frühen Morgen des 13. März, um 2.00 Uhr - nur Stunden nach der Gemeindewahl, für die er nicht mehr kandidiert hat - verhaftet und ins Siegburger Gefängnis gebracht. Entlassungsgesuche seiner Frau und seines Bruders werden vom Landrat abgelehnt.

Am 15. Juni 1933 und am 9. Juli 1933 stellt Ka. selbst Anträge; in dem letzten bedauert er seine SPD-Mitgliedschaft. Daraufhin verfügt Landrat Buttlar "nach Rücksprache mit dem Kreisleiter [...], der Gefängnisverwaltung, sowie dem Bürgermeisteramt in Troisdorf" die Entlassung Ka.s mit einer Auflage, die allerdings nicht überliefert ist. Später begibt sich Ka. für einige Zeit zu seinem Bruder, der in der Nähe von Nürnberg lebt.

Zwei Reaktionen auf die NS-Übergriffe sind überliefert; sie zeigen, dass in der Arbeiterschaft noch Widerstandswille vorhanden ist.

Am Nachmittag des 15. Februar 1933, gegen 15. 30 Uhr, ruft der Gewerkschaftssekretär Henseler im Landratsamt an und berichtet  Regierungsassessor Thiel von Unruhe unter den Arbeitern von Troisdorf und Siegburg; besonders aufgebracht seien die Arbeiter der Mannstaedt-Werke und der RWS (später: DAG oder DN). Henseler bittet um Schutz für die vier prominenten Gewerkschafter bzw. Sozialdemokraten Ka. , Klein, Berghold und Fleischer - ansonsten gebe es am folgenden Tag Streiks. Thiel beruhigt ihn: Für Schutz sei gesorgt, ausserdem billige die SA diese Vorfälle nicht.

Kaum hat Thiel den Hörer aufgelegt, klingelt wieder der Apparat: Diesmal ist es der Mannstaedt-Direktor Leo Kuttenkeuler. Der Betriebsrat sei gerade bei ihm und habe ihm erklärt, wenn ihre Gewerkschaftskollegen weiter bedroht würden, gebe es Streik; darin seien sich die Mannstaedt-Arbeiter mit ihren Kollegen von der RWS einig.

Jetzt wird Thiel deutlich: Der Grund für die Übergriffe sei schliesslich die Erschiessung des SA(!)-Mannes am Volkshaus, "als deren mittelbare Täter die bedrohten Personen angesehen würden." Die möglichen Täter - nun meint Thiel die drei Nazis vom Vormittag - seien verhaftet, für Schutz sei gesorgt.

Die Gewerkschafter Klein und Fleischer haben sich aber auf diese Zusage nicht verlassen, sondern sind - in Begleitung eines Polizeibeamten - nach Köln zu Freunden gefahren.

Die Reaktion von Landrat Wessel lässt sich aus den Akten sehr genau ermitteln. Dort sind nämlich zwei Fassungen des Berichts erhalten, den der Landrat an seine vorgesetzte Dienststelle - den Regierungspräsidenten in Köln - gesandt hat.

Zunächst der Entwurf: Er stammt aus der Feder von Thiel, wie seine Paraphe ausweist, und ist mit handschriftlichen Änderungen des Landrats versehen;

dann der Durchschlag der Ausfertigung, die am 17. Februar an den Regierungspräsidenten abging.

Der Landrat hat im Entwurf den Satz gestrichen, in dem Thiel - ähnlich wie in dem Telefonat mit Kuttenkeuler - den Gewerkschaftern eine Mitschuld an den Angriffen vom Vormittag zuschiebt:

Ursache der Beunruhigung seien die Erschiessung des SA-Mannes und die damit in Zusammenhang zu bringende Bedrohung der Gewerkschaftsführer, von denen man annehme, dass sie in der fraglichen Nacht im Volkshaus vorübergehend anwesend gewesen seien und den Angriff eingeleitet hätten.

Das angeforderte Kommando Schutzpolizei für die Beerdigung von Franz Müller, das nach Thiels Vorstellung 40 Mann hoch sein sollte, schrumpft nach einer weiteren Korrektur in der Endfassung auf 20 Mann. Wessel ist offensichtlich bestrebt, den Scharfmacher Thiel zurückzuhalten und die Nervosität nicht noch weiter anzuheizen, im Gegenteil:

Ich habe sowohl den Betriebsrat [der Mannstaedt-Werke] wie die bei mir vorstellig gewordenen Arbeiterführer dringend gebeten, auf ihre Leute beruhigend einzuwirken und die Arbeiterschaft von Unbesonnenheiten und von unbegründetem Streik zurückzuhalten, was mir bindend zugesagt wurde.

Wessel versichert den Arbeitern ausserdem,

dass keinerlei Grund zur Beunruhigung der Bevölkerung und insbesonderheit der Arbeiterschaft bestehe und dass alle möglichen und notwendigen polizeilichen Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit und zur Abwendung von weiteren Bedrohung der Arbeiterführer getroffen seien und, falls notwendig, erweitert würden.

Diese Zusagen können wohl zu Recht als sehr weitgehend eingestuft werden; damit befindet sich Landrat und Zentrumsmitglied Wessel durchaus nicht auf der Linie der Nazis, wie die folgenden Wochen zeigen, in denen z. B. Ka. in Schutzhaft genommen wird.

Es verwundert daher auch nicht sonderlich, dass Wessel am 5. April auf seinen Antrag hin "aus Gesundheitsgründen" beurlaubt und am 15. April nach Erkelenz versetzt wird - einer der etwa 20 Landräte in Preussen, die ihren Posten verlieren bzw. abgeschoben werden; sein Nachfolger ist der Schriftsteller Ludwig von Buttlar. Ende April tritt Wessel aus dem Zentrum aus.

Noch im Laufe des Jahres 1933 wird die Troisdorfer Kirchstrasse in „Franz-Müller-Strasse“ umbenannt.

In dem ersten Prozess vor dem Bonner Landgericht im Sommer 1933 wurden 6 Männer wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu 8 bis 12 Jahren Zuchthaus verurteilt, die anderen mangels Beweises freigesprochen, aber in Schutzhaft behalten. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass von den Nazis kein einziger Schuss abgegeben worden sei.

Dank der hartnäckigen Bemühungen des beherzten Verteidigers Dr. Grüne wurde der Prozess 1935 noch einmal aufgerollt. Das war vor allem deswegen möglich geworden, weil zuvor waren 9 Nazis wegen Meineid – sie hatten den Besitz und den Gebrauch von Waffen abgestritten – verurteilt worden; inzwischen waren der damalige Bürgermeister Ley und der damalige Polizeikommissar von Braunschweig nach mehreren Strafverfahren zum Rücktritt gezwungen worden.

Nach dem zweiten Gerichtsurteil, das die allein angeklagten Volkshausverteidiger freisprach, waren diese in der Nacht von einer SS-Streife zuerst beschossen worden und hatten daraufhin das Feuer erwidert. Es ist in mehreren Prozessen nie geklärt worden, von welcher Seite die tödliche Kugel abgefeuert wurde. Die Mütze des Erschossenen hatte den Einschuss auf der Rückseite, so dass man spekulieren kann, ob jemand aus dem Volkshaus Franz Müller erschossen hat, als dieser sich zu den anderen SS-Leuten umdrehte – oder jemand aus den eigenen Reihen.

Lokaltermin am 15.September 1933 in Siegburg:

Bild 1: Blick aus den oberen Stockwerken des „Volkshauses“ auf die gegenüberliegende Tankstelle.

Bild 2:Blick von der Tankstelle auf das „Volkshaus“. Die Angeklagten werden an Handschellen von Schutz-Polizisten über die Strasse geführt. Landespolizei steht Posten.

2. Folge: 22. Februar 1933 [Listen]

Am 22. Februar 1933 liefern die Gemeinden des Siegkreises, darunter auch Troisdorf, dem Landrat Listen ab, die die Namen und Anschriften von Kommunisten enthalten. Diese Listen sind vier Tage zuvor über den Landrat vom "Höheren Polizeiführer West - Sonderkommissar des Ministers des Innern", Stieler von Heydekampf, angefordert worden. Dieser „Höhere Polizeiführer West“ (HPFW) war von dem neuen NS-Innenminister Hermann Göring - an den verfassungsmässigen Behörden vorbei – in Recklinghausen als eine Art "Oberpolizeipräsident" eingesetzt worden, in unserem Falle für die gesamte Rheinprovinz.

Der HPFW hatte die Landräte um eine Aufstellung "ersucht" mit den Namen der "Führer der K. P. D. [, der] kommunistischen Nebenorganisationen [und] der freien Gewerkschaften. " In seinem Rundschreiben an die Bürgermeister hatte Regierungsassessor Thiel vom Landratsamt ("persönlich! sofort!") diese Aufstellung "binnen 24 Stunden" angefordert: "Ich mache die genaue [. . . ] Aufstellung der Liste zur Pflicht. "

Troisdorfs Bürgermeister Matthias Langen nun gibt seine Liste am 22. Februar ab. Sie enthält für die KPD und ihre Nebenorganisationen insgesamt 14 Namen. Die meisten anderen Städte und Gemeinden haben - wie die Liste für den gesamten Kreis ausweist - entsprechend dem Auftrag, "Führer" zu nennen, gehandelt und einen, zwei oder drei Namen aufgeführt; bei manchen ist ihre Funktion vermerkt, z. B. "Vorsitzender der Ortsgruppe", "Stellvertreter", "Ortsgruppenpolleiter"; davon weicht nur noch Siegburg-Mülldorf ab, dessen Bürgermeister sieben Namen (ohne Funktionen) angibt.

Dieses Missverhältnis (zwei, drei, sieben gegen vierzehn) scheint auch einem späteren Leser - dem Landrat ? - aufgefallen zu sein: In die Akte ist neben den Block der 14 Troisdorfer Namen von Hand ein grosses Fragezeichen gesetzt worden.

Bürgermeister Langen hat das Rundschreiben nicht genau genug gelesen. So nennt er auch noch Hans Götz, Kirchstrasse 1, mit dem Zusatz "zur Zeit flüchtig". Hans Götz ist zu diesem Zeitpunkt tatsächlich schon in der Sowjetunion.

In dem Rundschreiben des HPFW ist aber auch nach "Decknamen" und "gegebenenfalls Ausweichquartiere[n]" gefragt worden: Informationen, die - auch für einen Laien durchschaubar - eindeutig Fahndungszwecken dienen. Durch seine Nachlässigkeit (oder seinen Übereifer) liefert Langen nicht nur die "Führer", sondern zahlreiche weitere Troisdorfer KPD-Mitglieder den Nazis ans Messer.

Dass diese Listen kein Spielmaterial sind, sondern mit Bedacht vorbereitete Fahndungslisten, zeigt sich nach dem Brand des Reichstagesgebäudes am 27. Februar, als im ganzen Reich Jagd auf Kommunisten und Sozialdemokraten gemacht wird: Von den 13 Troisdorfer Kommunisten werden 7 verhaftet, 6 in der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März, einer am Abend des 1. März:

Bruno Fr.

Hermann H.

Wilhelm Kn.

Karl Kr.

Johann Lo.

Paul M.

Gottfried Ra.

Ihre Verhaftungen werden sämtlich vom Landrat telefonisch angeordnet, ebenso ihre Einweisung in das Siegburger Gefängnis an der Luisenstrasse 90. Eine zweite Gruppe von KPD-Mitgliedern wird nach der Gemeindewahl vom 12. März festgenommen und eingeliefert:

Konrad F.

Adolf R.

Christian R.

Matthias S.

Paul S.

Dagegen nimmt sich die Liste der verhafteten SPD- bzw. Reichsbannermitglieder mit sechs Personen recht bescheiden aus; sie werden alle am 13. März, an dem Montag nach der Gemeindewahl, verhaftet:

Johann B. (FWH)

Josef K.

Karl Ku.

Johann M.

Matthias O.

Hermann S.

Noch ein paar Zahlen:

42 Männer und Frauen aus Troisdorf, Altenrath, Friedrich-Wilhelms-Hütte sind in Haft gewesen,

167 Kommunisten und Sozialdemokraten sind im März 1933 im Gefängnis Siegburg,

3. 324 Kommunisten sind in Haft in den Regierungsbezirken Koblenz, Köln, Aachen, Trier, Düsseldorf,

ca. 25. 000 politische Häftlinge in Preussen,

3. 818 Schutzhäftlinge im Regierungsbezirk Düsseldorf im März/ April 1933,

340 politische Häftlinge im Kölner Klingelpütz am 1. April.

3. Folge: 28.Februar 1933 [Schutzhaft]

Nach dem 28. Februar 1933 sind aus den damaligen Ortschaften Troisdorf, Altenrath, Friedrich-Wilhelms-Hütte 42 Männer und Frauen in die sogenannte „Schutzhaft“ genommen worden.

Diese "Schutzhaft" ist keineswegs eine Erfindung der Nazis, die ja manches bloss konsequent zu Ende getan haben, was andere vor ihnen schon gedacht haben. Schon vor 1914 konnte jemand in Schutz- oder Polizeihaft genommen werden, wenn diese Person z. B. durch Angriffe einer Volksmenge gefährdet schien. Auch in der Weimarer Zeit gab es die Polizeihaft zum Schutz der öffentlichen Ordnung; dabei war jedoch vorgeschrieben, dass der Verhaftete binnen 24 Stunden einem Richter vorgeführt werden musste.

Nach der Machtübergabe vom 30. Januar 1933 wird die Schutzhaft von den letzten rechtsstaatlichen Hemmnissen "befreit": Durch zwei Notverordnungen vom 4. und vom 28. Februar ("Reichstagsbrand-Verordnung") wird u.a. die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit aufgehoben. Jetzt ist die Schutzhaft eine "vorbeugende polizeiliche Massnahme zur Ausschaltung der von staatsfeindlichen Elementen ausgehenden Gefahren" - so hätte man damals gesagt. Der neue preussische Innenminister Hermann Göring schärfte allen seinen Polizisten am 6. März ein:

„Zur Richtigstellung irrtümlicher Auffassung wird darauf hingewiesen, dass Schutzhaft im Rahmen des § 1 der VO vom 28. 2. 33 eine rein polizeiliche Massnahme ist, bei der jede Mitwirkung der Gerichte ausgeschlossen ist. Eine Vorführung vor einen Richter komme nicht in Frage.“

Die Reichstagsbrand-Verordnung "zum Schutz von Volk und Staat" wird dann auch von den Behörden zitiert, als einer der Schutzhäftlinge, der Troisdorfer SPD-Vorsitzende Josef K. , am 23. März und seine Ehefrau am 15. April eine "Eingabe" an den Landrat richten mit der Bitte um Entlassung. Am 5. Mai teilt Landrat Buttlar "Herrn Josef K. in Siegburg, Luisenstrasse 90" und dem Bürgermeister Langen mit:

„Nach Ausserkraftsetzung des Artikels 114 der Reichsverfassung durch § 1 der Verordnung des Herrn Reichspräsidenten vom 28. Febr[uar]1933 (R. G. Bl. I. S. 83) sind Beschränkungen der persönlichen Freiheit durch Inschutzhaftnahme zulässig. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung macht Ihr Verbleiben in der Haft zur Abwehr staatsgefährdender Gewaltakte erforderlich, sodass vorläufig eine Entlassung aus der Schutzhaft nicht in Frage kommen kann.“

Ein anderer Schutzhäftling, Christian R. , beschwert sich am 3. April 1933 schriftlich beim Regierungspräsidenten in Köln. Die kühle Antwort am 28. April: Die Beschwerde wird wegen Verspätung zurückgewiesen.

Neu in Deutschland ist auch, dass Parteifunktionäre ein Wörtchen mitreden bei der Frage, ob jemand entlassen werden kann oder nicht. So berichtet Bürgermeister Langen am 7. April dem Landrat:

„Der Führer der hiesigen SA erklärte mir, dass er beantragt habe, den Ra[. . . ] mit Lo[. . . ] und Fr[. . . ] am längsten in Schutzhaft zu halten.“

Und dem oben erwähnten Antrag des Josef K. auf Haftentlassung, den Bürgermeister Langen unterstützt, wird „seitens des Ortsgruppenführers der NSDAP nicht widersprochen.“ Der Beigeordnete Steinmetz (NSDAP), der seit dem 12. Mai 1933 den beurlaubten Bürgermeister Langen vertritt, teilt am 13. Mai dem Landrat mit, dass die Haftentlassung des Christian R. von dem Unterzeichneten und "von der örtlichen Parteileitung" weiterhin abgelehnt werde.

Die ersten Schutzhäftlinge werden schon am 15. März entlassen. Auf Anweisung des Landrats öffnen sich um 19 Uhr die Gefängnistore für Paul So. und Johann B.

Am nächsten Tag folgt Adolf R. , am 22. März Wilhelm Kn. , Konrad F. und Karl Kr. , am 27. März Johann M. , Paul S. und Hermann S. . Am 4. April ist Paul M. (vorläufig) frei, am 8. April Dr. Matthias O. (auch vorläufig), am 20. und 22. April Gottfried Ra. und Bruno Fr. .

Am 4. Mai 1933 sind im Siegburger Gefängnis noch 221 Schutzhäftlinge, darunter 40 aus dem Siegkreis, und folgende aus Troisdorf:

        bis

Julius H. (FWH)         (unbekannt)

Josef K.         10. Juli

Karl Ku.         27. Mai

Johann Lo.         19. Mai

Christian R.         02. Juni

Johann T.         02. Juni

Josef Z.         03. Oktober

Die Schutzhäftlinge, die zwischen Juni und Oktober entlassen werden, müssen sich zweimal täglich bei der Polizei melden.

Auch in den Ortschaften Altenrath und Friedrich-Wilhelms-Hütte greifen die Nazis mehrfach zu: Aus Altenrath werden Ferdinand V. und Heinrich J. am 6. Juni nachmittags verhaftet und nach Siegburg gebracht.

Auf "der Hütte" ist der bekannteste Schutzhäftling der Schulrektor Wilhelm R. Er wird am 3. Mai festgenommen, weil er gesagt haben soll, die Politik der Nazis sei eine Verdummung des Volkes. Als aber ein Zeuge bei der Vernehmung "auf Befragen an[gibt], die einzelnen Worte [. . . ] nicht wiedergeben zu können", wird R. bereits am 8. Mai entlassen. Vom 1. November 1933 an ist R. an der Schule Kirchstrasse tätig; dorthin ist er strafversetzt worden, verbunden mit einer Degradierung; sein Sohn, später Universitätsprofessor, avancierte später zum Führer in der HJ.

Der Lehrer Karl Ku. wird schon am 13. März, dem Tag nach der Gemeindewahl verhaftet. Er wohnt in Troisdorf, Fischerstrasse, und ist Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Menden.

Johann B. (SPD und Reichsbanner) aus der Uferstrasse 17 wird am 12. oder 13. März verhaftet, kommt aber am 15. März, 19 Uhr, schon wieder frei. Er und Jean W. (ebenfalls aus der Uferstrasse) werden im März zwar noch in den Mendener Gemeinderat gewählt, aber Ende Juni aus diesem Gremium wegen ihrer SPD-Mitgliedschaft ausgeschlossen.

Julius H. , Büroangestellter, Windgassenplatz 3, kommt vom 30. Juni bis zum 3. August 1933 wegen "aufhetzende[r] Redensarten der Regierung und Bewegung[!]" ein zweites Mal in Schutzhaft. Er war bereits am 2. oder 5. Mai aus unbekanntem Grund und für unbekannte Zeit verhaftet worden.

Bild 1:Ein Schutzhaft-Befehl („Ausfertigung“), die aus unbekannten Gründen in den Akten verblieben ist.

Bild 2: Die neue Staatsmacht: Ein Schutzpolizist (links) und ein SA-Mann (rechts), der „Hilfspolizist“ geworden ist.

4. Folge: 9.März 1933 [jüdische Geschäfte]

Die Juden sind neben den Kommunisten und Sozialdemokraten die zweite Bevölkerungsgruppe, denen die Nazis schon vor 1933 und deutlich genug den Kampf angesagt haben. Auch bei ihnen warten die Nazis nicht lange mit den ersten Aktionen. Bereits im März 1933 starten sie den sogenannten "Juden-Boykott": SA-Männer ziehen mit Schildern vor jüdischen Geschäften auf und warnen die Passanten: "Deutsche, wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!"

So auch in Troisdorf vor den Geschäften "Ehape" und "Hollandia" an der Kölnerstrasse. Das geschieht am 9.März, schon drei Wochen vor dem reichsweit propagierten "Boykott"-Tag des 1. April.

Bürgermeister Langen als Chef der Ortspolizeibehörde wird an diesem Donnerstag Nachmittag von den Geschäftsleuten alarmiert; er verbietet auch den SA-Leuten jegliche "Geschäfts- und Verkehrsstörung", hat damit aber keinen Erfolg - im Gegenteil: Am Tag darauf, kurz vor 12 Uhr,

„erschienen vor den oben genannten Geschäften eine Anzahl SS.- und SA.-Leute von auswärts, anscheinend von Siegburg, und verboten den Geschäftsinhabern den weiteren Verkauf. Die Geschäfte wurden geschlossen und auf die Fenster die Aufschrift gesetzt: "Von der SS. geschlossen".“

Weder die dort postierten Polizisten, denen gesagt wird, das sei eine Massnahme der Kölner Gauleitung der NSDAP, noch der Bürgermeister, der inzwischen erfahren hat, dass in Nachbargemeinden das gleiche passiert ist, sehen sich imstande, diesen Gewaltakt zu verhindern oder rückgängig zu machen. Vielmehr meldet Langen dem Landrat am Freitag, dem 10.März, abends: „Zur Vermeidung unzweckmässiger Weiterungen [habe ich] von polizeilichen Massnahmen Abstand genommen.“ Armseliger kann der oberste kommunale Beamte seine Kapitulation vor der braunen Gewalt nicht ausdrücken.

Die gewaltsam geschlossenen Geschäfte öffnen zwar am Freitag gegen 18 Uhr, nachdem die SA abgezogen ist, noch einmal kurz; aber am Samstag ist die SA um 8 Uhr wieder zur Stelle, verfügt wieder die Schliessung und überwacht anschliessend die Einhaltung dieser Massnahme.

Dabei konnten sich die SA-Leute eines Sinnes wissen mit dem neuen Innenminister und damit Chef der Polizei von Preussen, Göring; am Abend desselben 11.März sagt Göring in Essen:

„Ich habe erst angefangen zu säubern, es ist noch längst nicht fertig [...]. Wenn sie sagen, die Bevölkerung ist in furchtbarer Erregung, weil jüdische Warenhäuser vorübergehend geschlossen waren, so frage ich: Ist es nicht natürlich, wenn wir Deutsche endlich erklären: Kauft nicht bei Juden, sondern beim deutschen Volk. Ich werde die Polizei rücksichtslos einsetzen, wo man das deutsche Volk zu schädigen weiss. Aber ich lehne es ab, dass die Polizei eine Schutztruppe jüdischer Warenhäuser ist. Es muss endlich einmal der Unfug aufhören, dass jeder Gauner nach der Polizei schreit. Die Polizei ist nicht dazu da, die Gauner, Strolche, Wucherer und Verräter zu schützen. Wenn sie sagen, da und dort sei einer abgeholt und misshandelt worden, so kann man nur erwidern: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Wir haben jahrelang die Abrechnung mit den Verrätern angekündigt.“

5. Folge: 12. März 1933 [Gemeindewahl]

Welcher Geist nach dem 30. Januar durch das Troisdorfer Rathaus wehen soll, führen die Nazis nach der Reichstagswahl (5. März), aber noch vor der Gemeindewahl (12. März) allen Mitbürgern deutlich sichtbar vor Augen: Am 7. März hissen sie vormittags - angeblich auf höhere Anordnung - auf dem Rathaus an der Poststrasse die Hakenkreuzfahne: Juristisch und protokollarisch ist es (noch) ein Unding, eine Parteifahne auf einem öffentlichen Gebäude hochzuziehen. Freilich sind die Troisdorfer Nazis nicht die einzigen, die das tun; solches ist aus anderen Orten auch überliefert, z. B. aus Bad Godesberg. Sie tun auch nur das, worum der neue preussische Innenminister Hermann Göring scheinheilig gebeten hat:

„In der Freude über den ausserordentlichen Wahlerfolg [bei den Reichstagswahlen] hat die Bevölkerung vieler Orte das Hissen der Hakenkreuzfahne auf staatlichen und kommunalen Dienstgebäuden gefordert und durchgesetzt. Ich bitte, dieser verständlichen Volksstimmung in den nächsten Tagen Rechnung zu tragen. “

Der Bürgermeister von Bad Godesberg, Zander, allerdings hat noch am 27. Februar die auf der Godesburg aufgezogene Fahne entfernen lassen und Strafantrag gegen die Godesberger NSDAP wegen Hausfriedensbruch gestellt. Aus Troisdorf ist vergleichbarer Widerstand nicht überliefert.

Wahl Gemeinderat 12. 3. 33

Stimmen

Zentrum

1617

SPD

425

KPD

199

NSDAP

1146

Gemeinn. Interessengemeinschaft

1048

andere

290

 

Hakenkreuzfahne hin - Hakenkreuzfahne her: Die Gemeindewahl am 12. März bringt den Nazis in Troisdorf einen schönen Erfolg: Sie sind jetzt zum ersten Mal im Gemeinderat vertreten, und zwar mit fünf Gemeindeverordneten (GV):

Nikolaus Ihrlich

Wilhelm Pütz

Peter Reinartz

Arthur Schellberg

Peter Steinmetz

 

Damit stellen sie nach dem Zentrum (8 GV) und mit der "Gemeinnützigen Interessengemeinschaft", hinter der sich der Haus- und Grundbesitzerverein verbirgt, die zweitstärkste Fraktion. Aber bezogen auf die Reichstagswahl vom Sonntag zuvor haben die Nazis - wie andere Parteien auch - beträchtlich an Stimmen verloren: Von 1. 663 (Reichstag) ist das Stimmenaufkommen auf 1. 146 (Gemeinde) gesunken. Und von den 22 Sitzen des Gemeinderates stellt die NSDAP mit ihren 5 keineswegs eine irgendwie beeindruckende Mehrheit dar. Wie im Reichstag auf die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und das Zentrum, so sind die Nazis auch im Troisdorfer Gemeinderat auf den guten Willen der ansonsten so verhassten Parteien der "Weimarer Systemzeit", vor allem des Zentrums, der Partei des politischen Katholizismus, angewiesen.

Die Linke, im Gemeinderat mit drei Sitzen vertreten (Odenthal und Schneider, SPD; Saal, KPD), kann schon nicht mehr mitreden, weil diese drei am Tag nach der Wahl, am 13. März, verhaftet werden. An der konstituierenden Sitzung des Gemeinderates am 4. April sind sie nicht beteiligt: Odenthal wird erst am 8. April entlassen; Saal, bereits am 30. März entlassen, darf nach einem besonderen Runderlass des preussischen Innenministers vom 20. März nicht mehr an der Sitzung teilnehmen, da alle Vertreter der KPD „sämtlich unter dem Verdacht des Hochverrats stehen. Ihre Ladung hat daher zu unterbleiben. “ Saal verzichtet am 2. April auf die Wahrnehmung seines Mandats; Schneider ist "abwesend m[it] E[ntschuldigung]".

Zur Mitglieder- oder gar Wählerstruktur der Troisdorfer NSDAP im Frühjahr 1933 kann nicht viel Definitives gesagt werden, weil die Quellenbasis schmal ist: Überliefert sind die Kandidatenlisten zur Gemeindewahl und die Wahlergebnisse für den Reichstag und den Gemeinderat. In der Kandidatenliste überwiegen die "bürgerlichen" Berufe (10 von 16), 6 Kandidaten sind als "Arbeiter" zu betrachten (4 Schlosser, 1 Elektriker, 1 Kraftfahrer). Die 10 "Bürgerlichen" setzen sich zusammen aus 4 kaufmännischen Angestellten, 1 Ingenieur, 1 Landwirt, 1 Gastwirt, 1 Treuhänder, 1 Reichsbahn-Betriebsassistent, 1 Buchhalter.

Damit fällt die Troisdorfer Zusammensetzung noch nicht aus dem allgemein bekannten Rahmen: Die NSDAP war die "gewaltige Sammelpartei der Mittelschichten" , die Partei des radikalisierten und furchtsamen Kleinbürgertums. Die "guten" Bürgerlichen (Lehrer, Ärzte, Fabrikanten) waren im Zentrum oder - wenn sie "nationaler" dachten - im "Nationalen Block".

Bild 1: Der Gemeinderat von Troisdorf: In der Mitte, unter der Büste des Reichspräsidenten Hindenburg: Bürgermeister Langen (Zentrum), an seiner rechten Seite (in Uniform): Beigeordneter Steinmetz (NSDAP). Das Photo ist um den 4. April gemacht worden. (Quelle: Stadtarchiv Troisdorf)

6. Folge: 4.April 1933 [Gemeinderat]

Die NSDAP hatte also am 12. März 1933 bei den Gemeinderatswahlen in (Alt-) Troisdorf 1.146 Stimmen und damit 5 Sitze im Gemeinderat errungen. Beeindruckend war das Ergebnis nicht: Das Zentrum, die Partei des politischen Katholizismus, lag mit 1.617 Stimmen und 8 Sitzen immer noch weit vorn, und die „Gemeinnützige Interessengemeinschaft“ lag mit 1.048 Stimmen und 5 Sitzen gleichauf. SPD (3 Sitze) und KPD (1 Sitz) waren weit abgeschlagen.

Umso verblüffender ist, wie schnell die NSDAP die politische Vertretung in die Hand bekam. Das fing schon an mit der Einladung zur konstituierenden Sitzung des neuen Gemeinderates. Dazu wurden zwei Einladungen des Bürgermeisters Matthias Langen in den Zeitungen veröffentlicht: eine am 27. März und eine am 1. April. Die erste war der Standard-Text zu einer Standard-Veranstaltung, der zweite war eine Einladung zu einer „nationalen Kundgebung“, die nur noch „verbunden ist mit kurzer Gemeinderatssitzung“.

Und diese Kundgebung findet nicht statt im Rathaus an der Poststrasse, sondern im Saal des NSDAP-Mitgliedes Thiesen, ebenfalls in der Poststrasse.

Und dieser Saal ist festlich hergerichtet mit den Fahnen in Schwarz-Weiss-Rot, des Stahlhelm und vier Hakenkreuzfahnen. Im Stadtarchiv Troisdorf sind Photos erhalten, die ein unbekannter Photograph damals aufgenommen hat. Und in drei Zeitungen gibt es ausführliche Berichte  über diese Gemeinderatssitzung, die eine Zeitung eine „Weihestunde“ nennt.

 Demnach marschiert die NS-Prominenz auf: Kreisleiter, stellvertretender Kreisleiter, der Siegburger Staatskommissar, der Leiter des Finanzamtes, der Troisdorfer Staatskommissar.

Der Männergesangverein Cäcilia singt („Wo die alten Eichen rauschen“), die Musikkappellen des Stahlhelm und der SA spielen Musikstücke aus alter Zeit und das Deutschland-Lied.

Im Saal und auf  der Bühne sitzen Vertreter der Geistlichkeit, der Behörden, Vereine und natürlich Schulkinder und Bürger.

Eröffnet wird die Gemeinderatssitzung nicht von Bürgermeister Langen, sondern von NSDAP-Staatskommissar Naas, der alle herzlich begrüsst und der Gefallenen des Weltkrieges gedenkt – wozu eigentlich?

Langen nimmt dann die Verpflichtung der anwesenden 18 Gemeindeverordneten vor – die 4 Vertreter der SPD und KPD sind zu diesem Zeitpunkt noch in der sogenannten „Schutzhaft“. Zu Beigeordneten werden u.a. Peter Steinmetz (NSDAP), Amandus Hagen, Dr. Carl Mannstaedt und Franz Braschoss gewählt.

Und mit dem Standard-Antrag, sowohl dem Reichspräsidenten als auch dem Reichskanzler die Ehrenbürgerschaft anzubieten, bringt die NSDAP-Fraktion das Zentrum dazu, der Unterwerfungsadresse an den Nazi-Kanzler ihre Zustimmung zu geben – ein plumper Trick, der überall in Deutschland damals gezogen hat. Niemand will – oder kann - dem hochverehrten Herrn Reichspräsidenten, dem Sieger von Tannenberg, Paul von Hindenburg diese Ehrerbietung verweigern. Im März 1932 haben doch die meisten der hier Anwesenden – angefangen bei Bürgermeister Langen bis zum Rentner Taube – die Kandidatur Hindenburgs zum Reichspräsidenten gegen Hitler öffentlich unterstützt.

Bürgermeister Langen (Zentrum) befürwortet ausdrücklich diesen Antrag. Dass jemand gewünscht hätte, den Antrag in zwei Anträge aufzuspalten, über die man dann unterschiedlich hätte abstimmen können, ist nicht überliefert – weder hier noch anderswo.

Bürgermeister Langen „gab ferner bekannt“, dass u.a. die Poststrasse in „Adolf-Hitler-Strasse“ und die Friedrich-Ebert-Strasse in „Claus-Clemens-Strasse“ umbenannt worden seien. Clemens war ein junger Nazi, der vor 1933 bei einer Strassenschlacht in Bonn erschossen worden war; er hatte eine Zeit lang in dieser Strasse gewohnt.

Langen „betonte die Bereitwilligkeit, in Einigkeit mitzuarbeiten am Wiederaufbau unseres Vaterlandes. Dann forderte er die Wiederherstellung der Selbstverwaltung und das Wiederkehren von Sauberkeit und Gerechtigkeit in den einzelnen Verwaltungen.“ Was sich hinter diesen verquasten Formulierungen verbirgt, wird wohl das Geheimnis des Reporters des „Westdeutschen Beobachters“, der Nazi-Zeitung, bleiben.

Klarer wird es wieder, als er schreibt, dass Langen „ein dreifaches Heil auf diese Führer unseres Volkes“ ausbrachte. Ihm steckt wahrscheinlich noch der Schrecken in den Knochen, war er doch drei Wochen vorher für 4 Tage vorübergehend aus dem Amt gejagt worden.

Ebenso unmissverständlich spricht der Fraktionsvorsitzende des Zentrums,  Dr. Wilhelm Hamacher: Er erklärte, „an dem Aufbau tatkräftig mitzuarbeiten und alles Gewesene zu vergessen. Zur Bekräftigung seiner Worte bot er den anderen Fraktionsführern seine Rechte, welches dankbar anerkannt wurde.“

Der Rentner Felix Taube von der "Gemeinnützigen Interessengemeinschaft" jubelt, dass die "marxistische Herrschaft endlich gebrochen sei" - als ob in Troisdorf die SPD und die KPD jemals "geherrscht" hätten! Aber er hat ja auch das Reich im Sinn, das Vaterland, die Nation ...

Den Anträgen der NSDAP (Ehrenbürgerschaften, Strassennamen) wird "einstimmig" und "freudig" zugestimmt. Heisst das: Mit den Stimmen des Zentrums? Haben sich Dr. Hamacher und seine Fraktion beim Antrag der Ehrenbürgerschaften durch den Namen "Hindenburg" von den Nazis hereinlegen lassen? Haben sie den ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) symbolisch geopfert gegen irgendeinen NS-Märtyrer? Der „Westdeutsche Beobachter“ lügt nicht, als er schreibt, dass Hamacher "die prinzipielle Bereitschaft zur tätigen Mitarbeit" erkennen lasse, der Stadt-Anzeiger berichtet ebenso. Auch das offizielle Protokoll formuliert:

Namens der Zentrumsfraktion sprach Herr Dr. Hamacher. Er betonte, dass die Zentrumsfraktion gewillt und bereit sei, mit den übrigen Fraktionen zusammen zu arbeiten, und bot allen Parteiführern die Hand .

Ohne auch nur den Anschein von Widerstand zu erwecken, lassen die bürgerlichen Parteien die Republik fallen. Vielleicht erhoffen sich Hamacher und seine Freunde aus ihrem "Nicht-Dagegen-Sein" irgendwelche Freiräume. Wenn man sagt, "Weimar" sei eine "Republik ohne Republikaner" gewesen, so sind damit auch die bürgerlichen Umfaller gemeint .

Meinungsverschiedenheiten hat es im Troisdorfer Zentrum vielleicht doch gegeben: Am 11.Mai treten Alois Müller und Dr. Forsbach von ihren Mandaten zurück; für sie rücken Franz Broermann und W. Lohmar nach  - solange, bis auch die restlichen Parteien verboten werden (Juni/Juli 1933). Am folgenden Tag wird Langen endgültig vom Dienst suspendiert, obwohl er noch schnell am 1. Mai vom Zentrum in die NSDAP übergetreten ist.

Bei der dritten Sitzung des Gemeinderates am 21.Juni 1933 haben sich die Reihen weiter gelichtet: Schneider  und Udert  (SPD) haben ihr Mandat niedergelegt - niederlegen müssen: Auch sie werden den Brief des Landrats erhalten haben, in dem ihnen "aufgegeben" worden ist, sich der weiteren Ausübung ihres Mandats zu "enthalten" . Von dem (NS-)Beigeordneten Steinmetz werden die neuen Zentrumsmitglieder Lohmar und Broermann darauf "aufmerksam [gemacht], dass sie ihr Amt im Sinne des Nationalsozialismus auszuüben haben."  

Tags darauf wird die SPD im ganzen Reich verboten , am 6.Juli löst Brüning das Zentrum auf ; am 14.Juli werden mit dem "Gesetz gegen die Neubildung von Parteien"  alle Parteien - ausser der NSDAP natürlich - verboten.

In der vierten Gemeinderatssitzung am 30.Juni 1933 verkündet der neue Bürgermeister Peter Josef Reinartz stolz, er sei nicht gewählt, sondern "mit dem Willen unseres Volkskanzlers Hitler an die erste Stelle der Troisdorfer Gemeinde berufen worden."  Und selbst jetzt noch - Ende Juni 1933 ! - gibt Dr. Hamacher für das Zentrum "die Erklärung loyaler Mitarbeit ab": Die sieht dann so aus, dass er "wünscht, dass die Kirchstrasse ihrer Bedeutung wegen bei der Herrichtung asphaltiert werde."  Dr. Hamacher wohnt in der Kirchstrasse Nr.39.

„Das ist der Gemeinderat, der am [4. April] 1933 dem Diktator Hitler das Ehrenbürgerrecht der Gemeinde Troisdorf verlieh.“(Beschriftung auf der Rückseite)

 

Foto

 

Zur Datierung:

Peter Steinmetz (2), Ortsgruppenleiter der NSDAP und GV, wird 1. Beigeordneter und scheidet als GV aus (Anzeiger vom 5.4.33).

Als solcher sitzt er rechts neben Bürgermeister Langen (1), der ab 15.5. beurlaubt ist (Anzeiger vom 12.5.33).

Amandus Hagen ist (3), „am Samstag“ aus Schutzhaft entlassen (Anzeiger vom 1.5.33).

7. Folge: 21.April 1933 [Leserbrief]

In Schutzhaft landen auch zwei Troisdorfer, die mit den "gemeingefährlichen Bestrebungen" von SPD oder KPD nichts zu schaffen haben; ihre Schutzhaft ist allerdings auch - wenn man den amtlichen Verlautbarungen glaubt - eine tatsächliche "Schutz"-Haft.

Amandus Hagen, Zementfabrikant, Bauunternehmer und Beigeordneter in einer Person, schreibt einen Leserbrief, der am 24.April 1933 im "Anzeiger für Troisdorf [...] und Umgegend" (Verleger Alex Möller) erscheint. Darin verwahrt sich Hagen gegen einen am 21.April im „Westdeutschen Beobachter“, der NS-Zeitung, abgedruckten Artikel mit der Überschrift "Klüngel und Korruption". Hagen schliesst den - ansonsten faden - Leserbrief mit den Sätzen:

Es ist sehr bedauerlich, wenn Zeitungen solche Vorwürfe und Unwahrheiten von jedwedem Denunzianten in die Oeffentlichkeit bringen, und ich muss es jedem rechtlich denkenden Menschen überlassen, sich hierüber eine eigene Meinung zu bilden.

Im übrigen bemerke ich, dass mein Unternehmen sowie meine politische Einstellung anerkannterweise stets einwandfrei waren, auch zu der Zeit, in der sich andere Elemente separatistisch betätigt haben.

[gez.] Amandus Hagen

Das bleibt nicht ohne Folgen: Bürgermeister Langen und Staatskommissar Heinz Naas (NSDAP) werden aktiv; Langen schreibt dem Landrat einen Brief, Naas fährt nach Siegburg und spricht mit Regierungsassessor Thiel. Langen schreibt:

Der Artikel ist m[einer] A[nsicht] nach geeignet und dazu angetan, in der Öffentlichkeit unliebsame Diskussionen usw. hervorzurufen. Ich bitte dortseits um Entscheidung, ob und evtl. welche Massnahmen gegen den Zeitungsverleger zu ergreifen sind.

Wohlgemerkt: Langen fragt nach "Massnahmen" nur gegen Möller. In Siegburg malt Naas ein düsteres Bild: Die Brüder Be., die sich von Hagens letztem Satz angesprochen fühlten, hätten "gedroht, sich an Hagen und Möller vergreifen zu wollen." Die Be. hatten auch ein Baugeschäft, beide Söhne waren in der Partei bzw. SS. Mit dem letzten Satz spielt Hagen auf die separatistischen Aktivitäten bis 1923 an, als im ganzen Rheinland, bis hinauf in die Pfalz, eine kleine Minderheit von lokalen Politikern eine Loslösung von Preussen betrieb.

Landrat Buttlar lehnt zunächst eine Schutzhaft ab, lässt sich dann aber von Naas umstimmen. Auch Bürgermeister Langen scheint am Telefon irgendwann umgeschwenkt zu sein, auch er hält jetzt Schutzhaft "für geboten". Naas hat nämlich kategorisch erklärt, "persönlich keine Gewähr für die Sicherheit der beiden Personen übernehmen zu können." Und dennoch: Buttlar ist die Sache nicht geheuer: Die erste Formulierung ("verfüge ich [...] polizeiliche Verwahrung") lässt er abschwächen ("stelle ich anheim"). Ausserdem befristet er die mögliche Schutzhaft auf den 29.April.

An diesem Tag kommt ein Anruf vom Regierungspräsidenten in Köln beim Landrat an, Hagen und Möller zu entlassen; um 9.30 Uhr sind sie nicht mehr in "Schutz"-Haft.

8. Folge: 12.Mai 1933 [Rücktritt von Bürgermeister Langen]

Am 12. Mai 1933 endet die Amtszeit von Bürgermeister Matthias Langen. Formal erfolgt der Rücktritt auf seinen eigenen Wunsch, in Wirklichkeit aber wird er aus dem Amt gejagt. Was war geschehen ?

Matthias Langen, Jurist, 46 Jahre alt, ist seit 1927 Bürgermeister der Gemeinde Troisdorf. Hier – wie im gesamten Rheinland – gibt es seit Kaisers Zeiten eine starke Zentrumspartei, die Partei des politischen Katholizismus. Bei der Kommunalwahl 1929 hatte das Zentrum etwa 45 % der Stimmen erhalten, 1933 immerhin noch 34 % - und das, obwohl die Nazis seit Regierungsantritt Hitlers am 30. Januar schon heftigen Terror auf die Bevölkerung ausübten.

Gemäss ihrer Ideologie haben die Nazis, die ja nirgendwo in der Mehrheit waren, sofort den totalen Zugriff auf Deutschland und die Deutschen geprobt; keinem Beamten – vom Minister bis zum letzten Dorfpolizisten – haben sie die Möglichkeit gelassen, sich mit den üblichen Methoden („Das haben wir immer so gemacht“ o.ä.) dem Zugriff der Nazis zu entziehen.

Am 2. Februar 1933 – die Tinte unter Hitlers Ernennungsurkunde ist gerade mal trocken – müssen die Troisdorfer Polizisten die Wohnungen von Kommunisten nach Waffen durchsuchen; Ergebnis: negativ.

In der Nacht vom 14. auf den 15. Februar beschiessen Nazis das Volkshaus in Siegburg; Ergebnis: 1 Toter.

Am 22. Februar muss Bürgermeister Langen eine Liste von Kommunisten abliefern – auf Vorrat.

Am 28. Februar, am 12. März und am 13. März werden die meisten Troisdorfer Kommunisten und Sozialdemokraten verhaftet.

Am 7. März hissen die Nazis auf dem Troisdorfer Rathaus die Hakenkreuz-Fahne der NSDAP – mit Zustimmung des preussischen Innenministers Hermann Göring (NSDAP), am selben Tag in Godesberg und Köln, einen Tag später in Bonn, 3 Tage später in Oberkassel – um nur ein paar Beispiele aus der näheren Umgebung zu nennen.

Am 9. März steht Bürgermeister Langen, der oberste städtische Beamte, einigen SA-Leuten gegenüber, die die Schliessung der beiden jüdischen Kleinkaufhäuser „Ehape“ und „Hollandia“, beide an der Kölnerstrassse, erzwungen haben. Die Nazis sagen dem Bürgermeister frech ins Gesicht, ihr Vorgehen sei von der Kölner Gauleitung der NSDAP angeordnet. Seiner vorgesetzten Dienstbehörde, dem Landrat, schreibt Bürgermeister Langen: „Zur Vermeidung unzweckmässiger Weiterungen habe ich von polizeilichen Massnahmen Abstand genommen.“

Am 13. März, dem Tag nach der Gemeinderatswahl, wird Bürgermeister Langen kurzerhand von dem „Bevollmächtigten der Nationalen Regierung für den Siegkreis“ in Zwangsurlaub geschickt – am selben Tag ebenso seine Kollegen Lürken (Bonn) und Zander (Godesberg), Nücker (Oberkassel), Adenauer (Köln), am 12.4. Dr.Lehr (Düsseldorf). Bereits am Samstag vor der Wahl wird Bochums Oberbürgermeister Dr. Ruer von den örtlichen Nazis in seinem Büro mit der Androhung der Schutzhaft gezwungen, sein Amt niederzulegen.

Solche hemdsärmeligen Entlassungen - etwas anderes ist es nicht - gehen dem Regierungspräsidenten in Köln dann doch zu weit; er sieht die grosse Gefahr, dass durch dieses Wildwest-Personalkarussell "der geordnete Gang der Verwaltung erheblich gestört wird" und teilt den Landräten mit, dass Beurlaubungen seiner vorherigen schriftlichen Genehmigung bedürften; dies möchten sie auch bitte den Mitgliedern der NSDAP weitergeben.

Am Donnerstag, dem 16.März nachmittags, erhalten Langen und ein weiterer Beamter der Gemeindeverwaltung die Nachricht, dass die "Beurlaubung" aufgehoben sei. Eine Zeitung schreibt:

„Die vielen Wünsche innerhalb aller Kreise der Bevölkerung, die auf der Strasse oder am Biertisch sowie in einer Fülle von Schreiben und Telefonanrufen der Hoffnung Ausdruck gaben, dass Bürgermeister Langen baldigst die Leitung der Gemeinde wieder übernehme, sind am Donnerstagnachmittag in Erfüllung gegangen.“

Den anderen, oben erwähnten (Ober-)Bürgermeistern war eine Rückkehr ins Amt nicht vergönnt.

Am 21.März, dem "Tag von Potsdam", an dem der neugewählte Reichstag in der Potsdamer Garnisonkirche eröffnet wird, gibt es wie überall in Deutschland auch in Troisdorf eine grosse Feier. Am Abend veranstalten die "nationalen" Verbände einen Fackelzug, die Musikkapellen spielen, ein Feuer wird angezündet, und Raketen werden abgeschossen. Bürgermeister Langen ruft seine Mitbürger auf, "alles Trennende zurückzustellen" und der neuen Regierung treue Gefolgschaft zu leisten, bevor zum Abschluss das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch ...“) gesungen werden.

Ende März zwingen die Nazis den Bürgermeister, die konstituierende Sitzung des Gemeinderates abzuändern in eine nationale Feier, bei der er nur noch eine Randfigur ist. Obwohl sie nur 5 von 22 Sitzen im Gemeinderat haben, diktieren sie den Verlauf und die Gestaltung dieser Feier. Der Gemeindeverordnete (GV) Peter Steinmetz (NSDAP) wird Erster Beigeordneter, obwohl seine Fraktion genausoviele Sitze wie die „Gemeinnützige Interessengemeinschaft“ hat.

Am 4. April tagt der neue Gemeinderat zum ersten Mal – ohne die GV der KPD und SPD, die in „Schutzhaft“ sind.

 

 

 

Troisdorf

Troisdorf

Bonn

Beuel

Godesberg

 

 

Stimmen

Sitze

Sitze

Sitze

Sitze

 

 

 

 

 

 

 

GIG

 

1048

5

 

 

 

KPD

 

199

1

3

2

1

NAB

 

290

1

 

 

 

NSDAP

 

1146

5

17

8

9

SPD

 

425

2

5

3

3

Z

 

1617

8

18

11

10

andere

 

 

 

5

1

3

 

Bürgermeister Langen gibt bekannt, dass er zwei Strassen nach Nazis bennant hat: die Poststrasse, an der das Rathaus liegt, in „Adolf-Hitler-Strasse“, und die „Friedrich-Ebert-Strasse“ (nach dem verstorbenen sozialdemokratischen Reichspräsidenten) in „Claus-Clemens-Strasse“, einem Nazi-Schläger, der bei einer Schiesserei zwei Jahre zuvor ums Leben gekommen war.

Langen

Damit hat Langen kaum die neuen Machthaber zufrieden gestellt, behaupten sie doch von ihm, „im Fahrwasser der Marxisten“ zu segeln. Auch dass er am 1. Mai noch schnell in die NSDAP eintritt, hat ihn politisch nicht mehr gerettet. Denn schon seit einiger Zeit ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen angeblich unsauberer Finanzgeschäfte; so soll Langen z.B. seinen Dispositionsfond von jährlich 500 Reichsmark unsauber geführt haben.

Am 12. Mai gibt Langen auf; er schreibt an den Landrat: „Zu meiner Erholung bitte ich, mir von Montag, dem 15.5.33, ab einen Urlaub von vier Wochen zu erteilen.“

Keine der Anschuldigungen hat Bestand. Das Verfahren wird im Oktober 1933 eingestellt. Langen ist aber seit August 1933 in den Ruhestand versetzt mit einem Ruhegehalt von 4.000 RM jährlich. Sein reguläres Gehalt bezieht er bereits von der Dynamit Nobel AG (DAG).

Nach 1945 beginnt Langen seine zweite Karriere als Gemeindedirektor. 1946 bewirbt er sich für dieses Amt, das nach dem Willen der britischen Besatzer strikt getrennt wird von dem des gewählten Vorsitzenden des Gemeinderates.

Der neue Landrat hat dem Troisdorfer Bürgermeister am 17.1.1946 mitgeteilt, dass die britischen Behörden die Personalanfragebögen der Gemeindebediensteten - auch der ehemaligen - geprüft hätten; danach "kann Langen eingestellt werden, wenn unbedingt nötig." Der Troisdorfer Entnazifizierungsausschuss hat Langen als "only nominal member" eingestuft; der Entnazifizierungshauptausschuss für den Regierungsbezirk Köln hatte am 7.3.1947 "no objections to employment", weil "nothing adverse found"; und auch der britische Sicherheitsoffizier vermerkte "may be employed". In der Troisdorfer Stellenanzeige vom 13.8.1946 sind ehemalige Parteigenossen („Pg’s“) ausdrücklich abgelehnt worden.

Bei der ersten Gemeindewahl nach 1945, am 15.9.1946, entfallen auf die kurz zuvor gegründete CDU 11 Sitze, das Zentrum 6, die SPD 3 und die KPD 1 Sitz. Langen erhält bei der Wahl am 29.10.1946 (d.h. vor dem Abschluss der Entnazifizierung) 12 Stimmen, der Gegenkandidat Kutzner 5; drei "weisse Stimmzettel" werden abgegeben; Agnes Klein (SPD) fehlte.

Langen bleibt Gemeindedirektor bis ...

9. Folge: 14. Juli 1933 [Euthanasie]

Am 14. Juli 1933 erlässt die Nazi-Regierung ein Gesetz, dessen Tragweite den wenigsten Zeitgenossen bewusst ist; sie nennt es scheinheilig: „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Es bringt am Ende Hunderttausenden den Tod, darunter sieben Menschen aus Alt-Troisdorf.

Mit dem Gesetz haben sich die Nazis einen Freibrief ausgestellt, um – vordergründig - in den nächsten Jahren Tausende Menschen unfruchtbar zu machen (zu sterilisieren): solche mit „angeborenem Schwachsinn“, Schizophrene, manisch-depressive Personen, Epileptiker, solche mit erblicher Blindheit oder Taubheit und nicht zuletzt Alkoholiker und homosexuelle Männer. Gleichzeitig werden sogenannte „Erbgesundheitsgerichte“ etabliert, besetzt mit einem Juristen als Vorsitzendem und zwei Medizinern.

In ihrem primitiven Wahn von „Rassehygiene“ sprechen Hitler und seine Schergen kranken oder behinderten Menschen und denen, die sie dafür halten, das Recht ab sich fortzupflanzen; sie wollen durch Auslese (später: „Ausmerze“) das „lebensunwerte Leben“ aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ auslöschen.

„Es ist eine Halbheit, unheilbar [geschlechts-]kranken Menschen die dauernde Möglichkeit einer Verseuchung der übrigen gesunden zu gewähren. Es entspricht dies einer Humanität, die, um dem einen nicht weh zu tun, hundert andere zugrunde gehen lässt. Die Forderung, dass defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarster Vernunft und bedeutet in ihrer planmässigen Durchführung die humanste Tat der Menschheit. Sie wird Millionen von Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen, in der Folge aber zu einer steigenden Gesundheit überhaupt führen.“ (Adolf Hitler, 1925)

Und ein Schritt weiter:

„Wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmässige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt.“

Das hat nicht Hitler geschrieben, sondern bereits 1920 der Reichsgerichtspräsident Karl Binding, freilich unter dem Eindruck der zahlreichen Opfer des Weltkrieges. Aber der Boden war bereitet.

Im Herbst 1939 gibt Hitler dann den Befehl zum Töten mit dem einen Satz:

„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“

Bis zum Sommer (!) 1945 fallen mehr als 100.000 Menschen in Europa der „Euthanasie“ zum Opfer – einem Programm, mit dem die Nazis systematisch „lebensunwertes Leben“ vernichteten.

Doch zunächst rechnen Kinder in der Schule:

„[Aufgabe] 63. Der jährliche Reichszuschuss an die Heilanstalten wird mit 350.000.000 M angegeben, die tatsächlichen Kosten der Pflegeanstalten sind aber das Dreifache dieser Summe. Eine fünfköpfige Familie verbraucht monatlich etwa 120 M. Wievielmal soviel gesunde Volksgenossen könnten um den wirklichen Gesamtbetrag ein Jahr lang erhalten werden gegenüber den 472.000 Erbkranken?“

oder:

„Aufgabe 95: Der Bau einer Irrenanstalt erfordert 6 Millionen RM. Wie viele Siedlungen zu je 15.000 RM hätte man dafür bauen können?“

und:

„Aufgabe 97: Ein Geisteskranker kostet täglich etwa 4 RM, ein Krüppel 5,50 RM, ein Verbrecher 3,50 RM. In vielen Fällen hat ein Beamter täglich nur etwa 4 RM, ein Angestellter kaum 3,50 RM, ein ungelernter Arbeiter noch keine 2 RM auf den Kopf der Familie.

a) Stelle diese Zahlen bildlich dar. -

Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300.000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege;

b) Was kosten diese jährlich bei einem Satz von 4 RM?;

c) Wieviel Ehestandsdarlehen zu je 1.000 RM könnten - unter Verzicht auf spätere Rückzahlung - von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?“

Aus Troisdorf werden „Martha“ 1934, „Oskar“ 1937, „Kurt“, „Herbert“, „Gisela“ und „Änne“ zu einem unbekannten Zeitpunkt unfruchtbar gemacht (alle Namen sind geändert).

Niemand überlebt:

Martha, die Ehefrau eines untergetauchten Troisdorfer Kommunisten und Mutter eines kleinen Kindes, verkraftet diese bedrohliche Situation offensichtlich nicht und wird im Winter 1933/34 in die Kölner Psychiatrie eingeliefert mit dem vagen Verdacht auf Schizophrenie. Diese Diagnose bestätigt der untersuchende Arzt (in den 50er Jahren Leiter der Psychiatrie Bonn) in einem Gutachten, das heute sehr fragwürdig erscheint. Daraufhin ordnet das „Erbgesundheitsgericht“ Köln die Unfruchtbarmachung an, die am 2. Oktober 1934 in der Frauenklinik der Universität Köln durchgeführt wird. Kurz nach dem 10. Juni 1941 wird Martha mit 55 anderen Patienten in der „Heil- und Pflegeanstalt“ (HPA) Hadamar (bei Limburg) durch Kohlenmonoxyd getötet. Ihre Leiche wird sofort verbrannt, die Asche auf einer Wiese neben der Anstalt verstreut. Der Ehemann, damals Soldat, erhält einen jener berüchtigten Briefe („Trostbriefe“), in dem die ihm unbekannte Heil- und Pflegeanstalt Bernburg an der Saale mitteilt, dass seine Frau dort plötzlich und unerwartet verstorben sei; wegen der (angeblichen) Seuchengefahr seien die Tote und ihre persönlichen Gegenstände sofort verbrannt worden. Die HPA bietet ihm die Übersendung der Urne an.

Oskar, ungefähr 1890 geboren, geistig behindert, wohnt in der Taubengasse in Troisdorf. Ihm wird 1937 vorgeworfen, sexuelle Kontakte mit Kindern und einem Mann gehabt zu haben. Ob das zutrifft, ist heute nicht mehr festzustellen; die Akten sind verloren. Auch er wird nach einem Urteil des „Erbgesundheitsgerichts“ Bonn in der Heil- und Pflegeanstalt (HPA) Düren unfruchtbar gemacht und am 20. August 1941 in Hadamar ermordet.

Kurt und Herbert, zwei Brüder, beide geistig behindert, beide um die Jahrhundertwende geboren, werden ebenfalls in Hadamar angeblich am 17. und 19. Februar 1941 ermordet. Ihre Urnen werden auf dem Kölner Westfriedhof bestattet.

Magdalena, 1875 geboren, wird möglicherweise am selben Tag wie Herbert in Hadamar ermordet. Ihre Urne liegt auf dem Troisdorfer Waldfriedhof.

Gisela, 1884 geboren, wird ebenfalls in Hadamar ermordet, angeblich am 30. Juni 1941. In Hadamar sind im Jahre 1941 über 10.000 Menschen ermordet worden.

Änne, 1888 geboren, wohnhaft in Spich, wird am 28. Juli 1944 in Meseritz-Obrawalde (polnisch: Miedrzyrzecz) ermordert, wie Tausende andere z. B. durch Verabreichung von „Luminal“, „Morphium-Scopolamin“, durch Injektionen mit Luft oder durch Verweigerung von Nahrung. Sie hat etwas länger leben dürfen, weil sie bzw. ihre Familie für die Kosten der Pflege bzw. Unterbringung selber aufkam und dem Reich somit Ausgaben ersparte.

Was 1941 bis 1945 im St.Josephs-Kloster in Sieglar, das von Cellitinnen geführt wurde, passiert, ist unklar. Das Pflegeheim in Sieglar ist im dortigen St. Josefskrankenhaus untergebracht. Sieglar hat eine Abteilung für körperlich Kranke (35 Betten), eine Station für Invalide (30 Betten) und das Heim (19 Betten).

Sieglar hat eine kleine Landwirtschaft: 5 Morgen Land, 9 Schweine, 25 Hühner. Als gesunde Hilfskräfte sind vorhanden: 1 halbinvalider Knecht, 2 Mädchen auf der Krankenabteilung und 1 Mädchen auf der Invalidenstation. Ein Teil der Pfleglinge ist zur Aufrechterhaltung des hauswirtschaftlichen Betriebes unentbehrlich.

Fest steht, dass Sieglar (wie das Heim des St. Josefsklosters in Dattenfeld, das Heim des St. Josefskrankenhauses in Much und das Elisabethheim in Niederkassel) der HPA Bonn "angegliedert [ist] und von hier aus ärztlich betreut" wird;

fest steht, dass die HPA Bonn dem Regierungspräsidenten 1943 die Hälfte der 19 Sieglarer Patienten »angeboten« hat: „10 Heimpfleglinge könnten abgegeben werden." Wohin? Wozu? Die »überflüssigen« Kranken, die nun auch zu gar nichts mehr taugen, aber nicht die, die „zur Aufrechterhaltung des hauswirtschaftlichen Betriebes unentbehrlich" sind, sollen „abgegeben" werden. Mit etwas Phantasie kann man sich vorstellen, dass „abgeben" sovielwie „ermorden" bedeutet;

fest stehen mehrere Tode, was aber in einem Zeitraum von drei bis vier Jahren nichts Ungewöhnliches ist:

 

Vorname

Geburtsdatum

Todesdatum

Todesursache

Alexander

1856

07.02.44

?

Anna

1854

20.03.42

Herzschwäche

Anton

ca.1881

17.03.44

Herz-und Kreislaufschwäche

Josef

ca.1887

30.04.44

?

Ludmilla

26.12.1869

15.03.41

Grippe und Lungen-entzündung/ Herzschwäche und Pneumonie

Margarete

ca.1885

11.11.43

Herzschwäche

 

Ludmilla ist 1933 - also im Alter von 63 Jahren - in hilflosem Zustand in Oberkassel bei Bonn aufgefunden worden und wird in die HPA Bonn eingeliefert. Dort ist sie - gelinde gesagt - sehr verwirrt, desorientiert (laut Krankenakte):

„[...] Stimmung meist euphorisch, ideenflüchtig, stumpf. Der Affekt ist flach, zeitweise leichte Beschäftigungsunruhe: Macht sich dauernd am Bett zu schaffen. Diagnose: Presbyophrenie [= Altersverwirrtheit]“

In den folgenden Monaten schreiben die Pfleger ins Krankenblatt u.a.: "ruhig", "kann sich leicht der Ordnung fügen", "läuft planlos herum", "still", "fluchtverdächtig", "oft schläfrig", im Herbst 1936: "drängt fort", und 8.12.36: "nach Sieglar überführt". Dort fällt dem Personal auf, dass Ludmilla keinen Widerspruch verträgt und sehr gern mit Scheren alles mögliche zerschneidet. Eine Behandlung - wie auch immer - wird ihr nicht zuteil, jedenfalls findet sich keine Eintragung im Krankenblatt. Mit dem Datum "14.3.41" - die Euthanasie läuft auf Hochtouren - trägt jemand in das Krankenblatt nach:

„Seit 14 Tagen an Lungenentzündung erkrankt, sehr hinfällig u[nd] pflegebedürftig.“

Und Dr. We., der Arzt der HPA Bonn, trägt unter dem 15.März 1941 ein:

„Exitus Herzschwäche bei Pneumonie. Dr. We[...]“

Mit anderen Worten: Die Lungenentzündung hat zu einem Herzversagen geführt, bei einer 71jährigen Frau sicher keine ungewöhnliche Todesursache. Verwunderlich ist aber - zumindest für einen Laien - die drastische Gewichtszunahme: 1933, bei der Einlieferung in Bonn, wiegt Ludmilla bei einer Körpergrösse von 165 cm 70 kg, im Januar 1937 (Sieglar) 82, im Dezember 1939 91 kg. Das ist für eine Frau von 165 cm Körpergrösse ein starkes und schädliches Übergewicht. War das gewollt oder einkalkuliert?

Herzschwäche und Pneumonie sind Allerweltsdiagnosen, egal, ob tatsächlich eine Lungenentzündung vorlag; und die konnte z. B. mit Hilfe des Barbiturats Luminal künstlich und bewusst herbeigeführt worden sein – ein Mord, wie er z.B. in Meseritz-Obrawalde verübt wurde.

Es bleibt vieles Spekulation, Verdacht, Möglichkeit. Vielleicht ist Ludmilla tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben - ohne "Fremdeinwirkung". Sie war ja immerhin schon 71 Jahre alt, die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten war 1941 allgemein schlecht. Die Pfarrei St. Johannes, Sieglar, heute Trägerin des Krankenhauses, hat ausser dem Aufnahmebuch keinerlei Unterlagen mehr.

In Hadamar wird seit 1964 - in der heutigen Form seit 1991 - der Opfer gedacht. In denselben Räumen der „Anstalt“, in denen seinerzeit die zur Tötung angelieferten Patienten katalogisiert und beurteilt wurden, ist eine Gedenkstätte eingerichtet, und im Keller kann man die Gaskammer, den Sezierraum und den Raum des Krematoriums besichtigen. Oberhalb der Anstalt ist der Friedhof, auf dem die Toten des Zeitraums 1941 bis 1945 in einem Massengrab verscharrt worden waren.

Die sterblichen Überreste, also die Asche, die den Angehörigen angeboten wurde, war nie die Asche ihres Toten, sondern bestenfalls die Asche eines anderen Toten, schlimmstenfalls irgendeine Asche. Die „Trostbriefe“, die die Angehörigen von dem Tod ihres Verstorbenen unterrichteten, wurden von der Zentrale in Berlin, Tiergartenstrasse 4, („T 4“) auf die Tötungsanstalten verteilt, um allzu auffällige Häufungen zu vermeiden. Die Sterbeurkunden wurden innerhalb der Tötungsanstalten in erfundenen Standesämtern von Hilfskräften getippt und von ihnen mit z.T. unleserlichem Gekritzel unterschrieben. So erfanden die Nazis das Standesamt „Hadamar-Mönchberg“, benannt nach dem Ortsteil, in dem die Klinik liegt. Das tatsächliche Standesamt „Hadamar“ wurde von den Vorgängen gezielt ausgeschlossen.

Die Todesursachen, die den Familien in den „Trostbriefen“ mitgeteilt wurden, waren samt und sonders frei erfunden, wobei auch peinliche Fehler unterliefen, die bei Angehörigen schon damals einen bösen Verdacht aufkommen liessen: So sollen  Erwachsene, denen schon als Kindern der Blinddarm entfernt worden war, an Blinddarmentzündung verstorben sein.

Kein „Trostbrief“ kam für die Troisdorfer Familien aus Hadamar; dass Marthas Ehemann Leo (Name geändert) sich nach Bernburg bei Berlin aufmachte, von wo der „Trostbrief“ gekommen war, war von den Nazis („T 4“) nicht erwünscht, aber einkalkuliert; ganz sicher ist Leo mit leeren Händen und ohne Auskünfte am Tor der Heil- und Pflegeanstalt wieder weggeschickt worden.

Nach Angaben des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen sind 360.000 Menschen von den Nazis zwangssterilisiert wurden; von ihnen leben heute noch etwa 20.000. Sie werden bis heute nicht offiziell als NS-Verfolgte anerkannt.

Photos aus Hadamar (2003)

Bild 1: Blick in die Gaskammer. Noch in der NS-Zeit wurde die Gasleitung abmontiert und das Sichtfenster (links neben der Tür) zugemauert. 

10. Folge: 05.12. 1933 [SA-Heim]

Als das Jahr 1933 sich dem Ende neigt, ist Deutschland verändert:

„Das laufende Jahr hat für unser Vaterland eine völlige Umgestaltung gebracht. Ich hatte Euch damals [=1932] geschrieben, daß wir nahe am Bürgerkrieg standen. Nur durch die Machtübernahme unseres Führers Adolf Hitler sind wir von dem furchtbaren Chaos verschont geblieben. Die politischen Parteien sind aufgelöst. Alle Personen, die sich durch ihre Parteitätigkeit strafbar fühlten, sind - soweit sie noch konnten - ins Ausland geflüchtet. Bezeichnend ist, daß bei den staatsfeindlichen Parteien die Juden die Führung hatten und jetzt im Auslande noch weiter gegen Deutschland arbeiten.

Die Umgestaltung verlief gegenüber der Revolution von 1918 sehr ruhig. Die weitere Entwicklung brachte ein geeintes Volk im deutschen Vaterlande, eine straffe Führung, die bei der letzten Wahl [=12. November 1933] das Vertrauen des Volkes fast einstimmig erhalten hat. Bis heute ist die Erwerbslosenzahl fast bis zur Hälfte gesunken. Neuer Lebensmut und Freude ist bei der Bevölkerung wieder eingekehrt.  Den noch in Not stehenden Volksgenossen wird durch das Winterhilfswerk Nahrung und Kleidung gegeben. Jeder Deutsche hilft und spendet, soweit er in der Lage ist. Eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt ist überall bemerkbar, diese bringt wieder Leben in den Geschäftsgang.“

Das schrieb ein Troisdorfer Geschäftsmann am 17. Dezember 1933 an seine amerikanische Verwandtschaft. In der Tat: Hitler hat bei den „Reichstagswahlen“ am 12. November fast 93 % der Stimmen für seine NSDAP bekommen – sie war aber auch die einzige Partei, die noch erlaubt war.

Dafür hatten andere Troisdorfer „ihre“ Partei verloren, mitsamt Mitgliederlisten und Parteikasse; zwei Dutzend Männer waren wochenlang in „Schutzhaft“, denn der Rechtsstaat war von den Nazis zerschlagen worden. Zwei Männer waren im Moorlager im Emsland eingesperrt, zwei weitere Männer waren in die Sowjetunion geflohen. Die Gewerkschaften waren verboten, dafür war der 1. Mai jetzt ein Feiertag.

Die beiden jüdischen Kleinkaufhäuser „Ehape“ und „Hollandia“ in Troisdorf waren zum ersten Mal von den Nazis drangsaliert worden.

Auf der anderen Seite hatten die Firmen DAG und Mannstaedt wieder Leute eingestellt, die Zahl der Arbeitslosen begann zu sinken.

Ein junger Mann erlebt Weihnachten 1933 aber nicht mehr: Anton Hamacher.

 

 

Anton Hamacher

(Photo ca. 1932)

 

Er ist 1908 geboren und Vater eines vierjährigen Jungen. Seine Frau Elisabeth steht am 5. Dezember vor dem Sieglarer Standesbeamten

„und zeigt an, dass der Arbeiter Anton Hamacher, 25 Jahre alt, wohnhaft in Sieglar, Hauptstrasse 5, geboren zu Beuel, verheiratet mit der Anzeigenden, zu Sieglar, Rathausstrasse 1, am fünften Dezember des Jahres tausend neunhundert dreiunddreissig, vormittags um viereinhalb Uhr, verstorben sei.

vorgelesen, genehmigt und unterschrieben.“

Hinter den dürren Worten der Sterbeurkunde verbirgt sich die Tatsache, dass Hamacher im SA-Heim am Stationsweg zu Tode geprügelt worden ist - nur dürftig verschleiert durch den Umstand, dass er seinen Verletzungen erst im Sieglarer Krankenhaus erlegen ist. Über die Todesursache - die tatsächliche oder angebliche - gibt wohl kein Dokument mehr Auskunft; die Aussagen Überlebender oder Freunde weichen von einander ab.

Ein Mithäftling, Peter K., meint: Anton habe bei einem Verhör einem SA-Mann unbeabsichtigt den Ellenbogen ins Gesicht gestossen; der habe daraufhin Anton zu Boden geworfen und sei mit äusserster Kraft auf dessen Brustkorb gesprungen. Heinrich Z. weiss von einem geplatzten Blinddarm. Andere haben ihre Kenntnisse aus dritter oder vierter Hand. Das Resultat bleibt jedoch dasselbe: Mord - nur mühsam vertuscht durch die Einlieferung in das Sieglarer Krankenhaus.

Auch das Grab von Anton Hamacher ist heute nicht mehr auffindbar. Die Witwe hat 1938 nach Köln geheiratet; der Sohn, der heute auch nicht mehr in Troisdorf wohnt, erinnert sich noch daran, dass das Grab - vermutlich ein Reihengrab - links neben dem Eingang des Sieglarer Friedhofs war und dass er es nach 1945 noch gesehen hat. Der frühere Friedhofswärter Vo. berichtet, dass man nach 1945 damit begonnen habe, die Reihengräber in diesem Bereich einzuebnen.

 

 

Lageskizze des SA-Heims am Stationsweg (rot gefärbt). Heute steht dort das Rathaus.

 

Das SA-Heim, von dem hier die Rede ist, lag am Stationsweg 4. Grundstück und Gebäude (Wohnhaus und Schuppen) hatten bis 1932 der Witwe Homberg gehört, deren Mann die benachbarte Siedlung hatte bauen lassen. In den 20er Jahren war in den Anbauten die Schreinerei des August Kader. 1932 wird das gesamte Anwesen zwangsversteigert, die neue Besitzerin ist die "Gewerkschaft Hulda" in Duisburg. Mindestens zwei Mitglieder des Grubenvorstandes von "Hulda" sind Bankiers der Dresdner Bank Duisburg, die 1936 das Haus an den Troisdorfer Bauunternehmer Fritz Gr. verkaufen. Auf welchem Weg die SA ab Juli 1933 die Erlaubnis bekam, einen Teil der rückwärtigen Anbauten für ihre Zwecke zu nutzen, ist nicht bekannt.

Das SA-Heim war die private NS-Folterkammer in Troisdorf. Mehrere tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten werden dort im Sommer/Herbst 1933 festgehalten und gefoltert. Zwei Opfer haben später ihre Erlebnisse berichtet: Leonhard R. und Peter K.; beide sind inzwischen verstorben. Leonhard R., Jahrgang 1907, aus der Roonstrasse 4, ist am 28. Februar, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, untergetaucht und hat bis zum 5. September 1933 illegal in Troisdorf und Köln gelebt. Zwei Wochen, nachdem er wieder in Troisdorf erschienen ist, wird er von den Nazis gefasst und in das SA-Heim geschleppt.

 

 

Leonhard R.

(Photo von 1938)

 

Leonhard R. schrieb:

„Am 19. September 1933 kam ich in das SA-Heim in Troisdorf (Stationsweg). Hier gab es zur Einführung Schläge mit der Hundepeitsche; als Begleitung lief ein Motorrad, damit man das Geschrei nicht hören konnte. Die Schläger bei mir waren St., Karl, Sch., Karl und B.; der letzt genannte ist verstorben. Dieser Vorgang wurde bei jeder Vernehmung gemacht. Es ist auch in den 10 Tagen, die ich im SA-Heim war, dreimal vorgekommen, wo ich zweimal am Tage dieses erlebte.

Als Vernehmungsbeamter war Kriminalkommissar Gi. Dieser Mann hatte eine besondere Methode: Er hatte nämlich einen Gummiknüppel und schlug mir auf den Hinterkopf, bis ich taumelig war. Dann sollte ich ein Phantasie-Protokoll unterschreiben, was ich verweigerte. An einem Tag, da war der Polizeiwachtmeister Walter M. der Mann, der seine Kraft zeigte; ich wurde von ihm so mit der Hundepeitsche geschlagen, bis er nicht mehr konnte. Da kam Kommissar Gi. dran und dann M., bis beide erschöpft waren. Am Schluss sagte dieser Mann, als ich auf der Erde lag und alle Viere von mir streckte: "Dir Kommunistenschwein soll man den Kopf zermalmen!" und setzte mir den Fuss auf den Kopf.

Den ganzen Tag musste ich mit Gesicht und Fussspitzen und erhobenen Händen an der Wand stehen. Hier hatte man einen Spruch an die Wand geschrieben:

"Heil Hitler! Heil Moskau! Rot Front!"

Sagte ich "Heil Hitler!", so war die Antwort: "Du Kommunistenschwein wagst es, "Heil Hitler!" zu sagen?!"

[Dann] wurde ich gezwungen, den anderen Spruch zu lesen; diese Antwort lautete: "Du Kommunistenschwein wagst, dieses heute noch zu sagen?!" Dann gab es Prügel mit der Hundepeitsche.

Bei der Einlieferung ins Siegburger Gefängnis hatte ich blutunterlaufene Augen von den Schlägen, die ich von Kommissar Gi. auf den Kopf bekommen habe. Protokollführerin war die frühere Angestellte Fräulein M. aus dem Bürgermeisteramt Troisdorf.“

Peter K. berichtet:

„Ich habe mich im Hof vor eine Hauswand stellen, die Arme heben und mit der Nase ein Stück Papier an die Wand drücken müssen. Wenn die Arme nach einiger Zeit erlahmten, stachen die Nazis mit Nadeln in den Oberarm. Weil ich bei der Vernehmung nicht „Heil Hitler!" sagte, wurde ich mit Stahlruten auf den Rücken geschlagen. Damit draussen keiner die Schreie hörte, liess man ein Motorrad laufen oder drückte den Gefangenen ein Kissen auf den Kopf. Ein Mitgefangener, Jakob S., trank in seiner Not seinen eigenen Urin.

Anwohner des Stationsweges, die doch irgendwann mal neugierig wurden, scheuchte die SA mit Gewehren von der Strasse oder von den Fenstern weg.

Als ich ins Siegburger Gefängnis eingeliefert wurde, hat dort niemand meinen zerschlagenen Rücken ärztlich behandelt.“

Ein anderer Gefangener soll - die Aussagen sind nicht ganz sicher - tagelang in einen „Eiskeller" gesperrt worden sein: einen wandhoch gefliesten, feuchten Kellerraum; dadurch habe er sich ein Nieren- oder Blasenleiden zugezogen.

Mindestens 10 Männer und vielleicht eine Frau sind - z.T. nur für Stunden - im SA-Heim gewesen; acht Männer und eine Frau sind am 26. bzw. 28.September 1933 ins Siegburger Gefängnis gebracht worden.

Ausser den schriftlichen Aufzeichnungen von Leonhard R., den Aussagen von Peter K. sowie zahlreicher Angehöriger und Freunde gibt es zwei amtliche Aktenstücke, die die "Vernehmung" in diesem Privat-KZ belegen:

In seinem "Stimmungsbericht" schreibt Steinmetz u.a.:

„Im SA-Heim befinden sich eine Anzahl ehemaliger Kommunisten aus Troisdorf und Sieglar in Haft zwecks Vernehmung durch Beamte des Staatspolizeiamtes Köln. Ein abschliessendes Ergebnis liegt noch nicht vor.“

Und in seinem Erstattungsantrag führt Steinmetz für die Gemeinde selbst keine Kosten auf, setzt aber unter die Liste mit acht männlichen und einem weiblichen Schutzhäftling ohne genaueren Beleg:

„Die hier [im SA-Heim] und durch die Überführung der Schutzhäftlinge ins Gefängnis entstandenen Kosten belaufen sich auf 90,55 RM.“

Steinmetz gibt hier auch den Grund ihres Aufenthalts an:

„Die Schutzhäftlinge sind vor ihrer Überführung ins Gefängnis einige Zeit im S.-A.-Heim untergebracht gewesen zwecks Vernehmung durch den Beamten der Staatspolizeistelle in Köln.“

In dieses SA-Heim gelangt auch im August 1933 das Radio des Kommunisten Christian R., das - so R. - für rückständige Miete und Hundesteuer gepfändet worden sei. Es soll dort "Tag und Nacht" gelaufen sein, um die Schreie der Gefolterten zu übertönen; zu demselben Zweck liessen die SA-Leute im Hof immer wieder ein Motorrad im Stand laufen.

Im SA-Heim scheint man auch lange und viel telefoniert zu haben - auf Kosten der Gemeinde. Denn der Haushaltsplan für 1934 erhöht den Kostenansatz für Fernsprechgebühren von 3.700 auf 4.200 RM: "überwiegend auf den Anschluss des SA-Heimes zurückzuführen."

Aus der Zeit nach 1945 ist nur zwei Dokumente bekannt. In dem ersten bestätigt ein Peter Kn. am 16. Juli 1948:

„Als politischer Häftling war ich im Jahre 1933 im SA-Heim Troisdorf. Mir war der ehemalige Sturmführer der SA, Herr Heinrich Ke., bekannt. Ich erkläre, nie gesehen zu haben, dass derselbe jemanden geschlagen hat.“

Auch der Troisdorfer Entnazifizierungsausschuss kommt am 22. Juli 1948 zu dem Schluss, dass Ke. nie selbst geschlagen hat. Der Ausschuss hält aber fest, dass Ke. nach Aussagen von Betroffenen und Zeitzeugen

im SA-Heim ständig anwesend war; 

ENDE