Athetierte Stellen im Juvenaltext1

Einleitung

Wenn man an Hand von (Knoche, Juvenal Satiren 1950) kritischem Apparat eine Liste der von den neuzeitlichen Editoren athetierten Verse aufstellt, so erkennt man, dass sie für unecht erklärt worden sind, nicht weil sie in den wichtigsten Handschriften fehlen, sondern viele, obwohl sie in der handschriftlichen Überlieferung gut tradiert sind2. Die Fälle, in denen Athetese und mangelhafte Überlieferung zusammenkommen, finden sich nur dort, wo schon den frühen Editoren und Redaktoren unverständliche Passagen, d.h. Interpolationen aus den „dark ages“ der Juvenaltradition, vorlagen, so dass jene in ihren Texten Streichungen aus Verlegenheit oder Streben nach Glättung vornahmen. Wer Juvenalverse athetiert, sieht sich also in den meisten Fällen in der Situation, gegen den tradierten Text zu argumentieren; er hat die Aufgabe zu beweisen, dass der nahezu lückenlos überlieferte Wortlaut nicht immer der Juvenals ist.

Die Geschichte der neuzeitlichen Juvenaleditionen ist gleichzeitig eine Geschichte der Textkritik und der philologischen Methode. Wohl kein Text hat unter der Bearbeitung und Beurteilung durch Philologen so viel erleiden müssen wie der Juvenals. Die Überblicke, die (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943) und (Housman 1931) über die Editionsgeschichte der letzten 100 Jahre geben, zeigen Auffassungen von extremer Gegensätzlichkeit. Wenn die frühere Kritik in der Beurteilung von echt und unecht „zwischen bodenloser Gewaltsamkeit und stumpfem Überlieferungsglauben“ (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 265) schwankte, kann man nur hoffen, dass wir daraus lernen. Housman war auf seine Art in manchem vorbildlich, wenn er auch von Überlieferungsgeschichte gar nichts wissen wollte (Housman 1931, XXXIII); Knoche und Jachmann aber haben den Weg gezeigt, den die moderne Textkritik hinsichtlich der Athetesen zu gehen hat: Unter Hinzuziehung von Paläographie und Handschriftenkunde ist der Text - ohne inhaltliche Vorurteile - auf Grammatik, Stilistik, Metrik und Logik im Kontext zu prüfen. Überlegungen, die „den“ Stil oder „den“ Juvenal berücksichtigen wollen, sind fehl am Platz.

Wenn man nicht mit den obengenannten Mitteln beweisen kann, dass ein Vers interpoliert ist, sondern wenn als einziges Argument gegen die Echtheit die „unjuvenalische“ Art oder allgemein-inhaltliche Bedenken angeführt werden, sollte man sich davor hüten, den Text anzurühren: Solange nicht der schlüssige Gegenbeweis erbracht ist, ist ein Vers original. So scheint Knoche in seiner Edition an einigen Stellen nach meiner Meinung zu weit gegangen zu sein: Das, was nur ungeschickt im Aufbau oder Stil wirkt, muss nicht unjuvenalisch sein. Denn solche Verse zu streichen, heisst in den gleichen Fehler zu verfallen wie die antiken Editoren; das Bestreben,. einen guten, logischen, schönen Text zu geben, kann dann nämlich auch zur Glättung führen, freilich nicht durch Interpolation, sondern durch Athetese.

Noch ein Wort zur Argumentation: Oft ergibt es sich, dass ein und derselbe Sachverhalt entgegengesetzten Argumentationen zugrunde liegt: Wenn z.B. ein Vers in einer oder mehreren Handschriften fehlt, so ist es möglich, dass das Fehlen an der einen Stelle (z. B. 8, 6 bis 8) als ein Indiz (unter anderen) für die Unechtheit gewertet werden muss; an einer anderen Stelle (z. B. 5, 148) ist es erlaubt oder gar erforderlich, über diese überlieferungsgeschichtliche Tatsache hinwegzusehen, da andere, besonders inhaltliche Gründe für die Echtheit des Verses sprechen. Es wäre falsch, als einzig massgebende Argumentationsebene die Überlieferungsgeschichte (oder den Inhalt) zu erachten. Andererseits ist es natürlich genauso bedenklich, sich die Argumente für oder wider die Echtheit wahllos aus den gegebenen Anhaltspunkten herauszusuchen und zurechtzulegen, wie es gerade passt. Ich habe versucht, an jeder Stelle diejenigen Gründe hervorzuheben und gegeneinander abzuwägen, die die Problematik einer Textstelle an ehesten und klarsten wiedergeben.

Ausgewählt wurden aus der ersten bis achten Satire die Textstellen, die in etwa repräsentativ die Problematik der Juvenal-Athetese aufzeigen.

eine falsche Erklärung: 3, 113

 

praeterea sanctum nihil aut ab inguine tutum,

non matrona laris, non filia virgo nec ipse

sponsus levis adhuc, non filius ante pudicus;

horum si nihil est, aviam resupinat amici.

scire volunt secreta domus atque inde timeri.

dell. Pinzger; Housman, Knoche, Clausen3

Lit.: (Housman 1931, XXXIII); (Knoche, Ein Juvenalkodex des 11. Jahrhunderts in beneventanischer Schrift ... 1928, 357); (Jachmann, Eine Elegie des Properz. Ein Überlieferungsschicksal 1935, 224 f); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940) 66,124,301.

In der dritten Satire behandelt Juvenal in einer längeren Passage die Charaktereigenschaften der Griechen, die er zumeist als Haussklaven kennengelernt zu haben scheint. Nachdem er sie als Gesinnungslumpen und Claqueure bezeichnet hat (Vers 100 bis 108), wettert er über ihre unmässige sexuelle Begehrlichkeit, der jedermann im Hause zum Opfer falle, und schliesst dann an: „scire volunt secreta domus atque inde timeri“. In Vers 109 bis 112 war eine gewisse Steigerung aufgebaut worden durch die Aufzählung der Personen, an die sich die Griechen heranmachen: Zuerst die weiblichen Mitglieder der Familie (Mutter und Tochter), dann die männlichen (Bräutigam und Sohn) - die Homosexualität hält Juvenal für eine spezifisch griechische Perversion -, und wenn da nichts zu machen ist, muss die Grossmutter des Hauses herhalten.

Wenn man diese drastische Schilderung gelesen - und sozusagen noch im Ohr hat, ist man verblüfft über die platte Aussage von Vers 113, die dazu noch einen abweichenden Tenor hat: Darin wird doch gesagt, dass die Griechen Interna der Familie erfahren wollen, die sie zu Intrigen benutzen können. Sie sind vielleicht darauf aus, durch auf diesen Interna basierende Verleumdungen Zwistigkeiten innerhalb der Familie zu stiften oder einen Angehörigen der Familie, durch die Preisgabe von Geheimnissen anderer für sich einzunehmen. Dahinter steht also der Typ des z.B. aus der griechischen Komödie hinreichend bekannten Sklaven, der die Fäden der Familienpolitik in seiner Hand hat. Zu diesem Zweck würden dann die Griechen, wenn wir Juvenal glaubten, sich an alle (!) Mitglieder der Familie heranmachen! Es ist allerdings fraglich, ob den Griechen - auch nach Juvenals Meinung - die „libidinousness“ (Housman 1931, p.XXXIII) wirklich nur Mittel zum Zweck war: Juvenal prangert doch in erster Linie die Heftigkeit der libidinousness der Griechen an, die vor keinem Mitglied der Familie halt macht; v.109 bis 112 hat doch hyperbolischen Charakter: Niemand ist vor den Griechen sicher, jeder hat von den Griechen Unverschämtheiten zu gewärtigen, und nicht: dass er ausgehorcht wird.

(Jachmann, Eine Elegie des Properz. Ein Überlieferungsschicksal 1935, 224 f) gibt eine Erklärung für die Interpolation des Verses: Weil in der Vulgatrezension und auch schon in P, dort allerdings von zweiter Hand hineinkorrigiert, in Vers 112 „aulam“ zu lesen war, der Sinn also wegen des „phortikon onoma“ (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 301) entstellt worden war, hatte der Interpolator, durch den Bruch verwirrt, eine Art Abschluss dieses Gedankenganges geben wollen. (Housman 1931, XXXIII) Erläuterung ist insofern richtig, als er v. 113 als „false explanation“ kennzeichnet. Aber - und das ist auch gegen Jachmann einzuwenden - die Aussage von v. 113 ist nicht nur aus v. 112 herzuleiten: sie wollte v. 109 bis 112 erklären und einen allgemeinen Grund für die libidinousness der Griechen angeben. Wenn man den Gedanken, der in v. 113 vorgetragen wird, noch weiter fortführt, stellt man fest, dass er auch nicht besonders einleuchtend ist: Die Griechen wären doch nicht so töricht unvorsichtig, sich mit jedem aus der Familie einzulassen und zwar mit dem Ziel: „conscii volunt esse rei familiaris“4; dieses dunkle Spiel würde doch nur das Risiko, ertappt und durchschaut zu werden, erhöhen; und Juvenal wäre - das kann man sicher behaupten - doch nicht so einfältig, um das nicht zu wissen5.

ein falsches Resümee: 4, 8

 

quid refert igitur, quantis iumenta fatiget

porticibus, quanta nemorum vectetur in umbra,

iugera quot vicina foro, quas emerit aedes

nemo malus felix, minime corruptor et idem

incestus, cum quo nuper vittata iacebat

sanguine adhuc vivo terram subitura sacerdos?

dell. Jahn; Knoche, Clausen.

Lit.: (Housman 1931, XXXII, XXV); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 66, 231); zu 4,9: (Winterfeld 1899, 160).

In der Einleitung der vierten Satire lässt Juvenal wieder Crispinus auftreten, den er als einen Mann schildert, der wegen seiner Laster eher als „monstrum“ (v. 2) zu bezeichnen ist: Crispinus’ Lasterhaftigkeit geht sogar so weit, dass er Witwen verschmäht und nur mit Priesterinnen Unzucht treibt, was ein Gottesfrevel ist.

Im einzelnen heisst es: „Was heisst es schon, wenn er in seinen riesigen Säulenhallen seine Gespanne jagt, wie gross die schattigen Wälder sind, in denen er herumfährt, was für Häuser er erworben hat? Kein Schurke ist glücklich, am wenigsten ein Verführer und dazu noch ein Gottesfrevler, mit dem neulich die Priesterin der Vesta lag … „ (v. 5 bis 10).

Schon in der frühen handschriftlichen Überlieferung hat v. 8 (und auch der folgende) einige Verwirrung gestiftet. In der Handschrift Parisinus 8072 (bei Knoche: R) ist einmal „vitiata“ zu lesen, was eine verständnislose Trivialisierung von „vittata“ ist; weiterhin liest man dort das unverständliche „incestum“ und in v. 8 „magis“: „Niemand ist allzu/besonders glücklich, am wenigsten ein Verführer …“, ein nicht einmal unsinniger Gedanke, der aber im Kontext fehl am Platze ist. Der Schreiber von P hat ursprünglich „maius“ geschrieben, sei es dass er dieses Wort aus seiner Vorlage (bei Knoche: 1), die eine Abschrift von der Vorlage von R (bei Knoche: 2) war, entnommen hat, oder dass er selber es eingesetzt hat; der Korrektor von P änderte nun „maius“ in „malus“ um, was auch in allen anderen Handschriften steht: „Kein Schurke ist glücklich, am wenigsten ein Verführer …“, was aber ebenso abrupt und unvermutet in den Gedankengang von v. 5 bis 7 einbricht (Housman 1931).

Denn worum geht es? Juvenal knöpft sich wieder den Crispinus vor, den er als die Verkörperung der Lasterhaftigkeit charakterisiert. Dann stellt er die rhetorische Frage, was der ganze Reichtum des Crispinus wert ist (v. 5 bis 7); der Leser muss nicht unbedingt etwas Negatives in grossem Besitz sehen. Die Kehrseite folgt v. 9: Dieser so überaus vermögende Crispinus ist ein „incestus“, ein Frevler, der neulich eine Priesterin der Vesta verführt hat! Dies ist die Antwort auf die Frage: Was heisst es schon, wenn einer reich ist, dabei aber gegen die heiligsten Gesetze verstösst? Vers 8 ist daher vollkommen abwegig an dieser Stelle, da es nicht um die Frage geht, ob Schlechtigkeit glücklich macht, sondern darum, ob Reichtum etwas über die Charaktereigenschaften eines Menschen aussagt.

Nicht verstandene Ironie: 5, 146-148

 

Vilibus ancipites fungi ponentur amicis,

boletus domino, set qualis Claudius edit

ante illum uxoris, post quem nihil amplius edit.

del. Heinecke; Knoche: versus 148 fort. delendus est.

Lit.: (Housman 1931, XXII); (Knoche, (Rezension der Housman-Edition) 1933, 247); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 154, 353).

„Den Freunden, die ihm gleichgültig sind, wird der Patron Morchel von zweifelhafter Qualität vorsetzen lassen, sich selbst aber Champignons, allerdings solche, wie sie Claudius (gewöhnlich) ass, bevor er den (Pilz) verzehrte, den seine Gattin ihm vorsetzte, worauf er (überhaupt) nichts mehr ass.“ Eine Passage voller Sarkasmus! Man erschaudert bei dem Gedanken, dass unter den „fungi“ für die Freunde vielleicht auch solche sind („ancipites“), die dem Claudius den Tod brachten; dass der grosszügige Gastgeber es mit den, was seinen Gästen serviert wird, nicht so genau nimmt: Eine Beobachtung, die auch Martial nachdenklich stimmt6. Vers 143 lässt aber auch die Interpretation zu - und darin liegt die doppelte Ironie -, dass vielleicht (auch) der wohlschmeckende Champignon des Patrons „anceps“ ist, dass ihn dasselbe Schicksal wie Claudius ereilt. Wer weiss das schon bei einem so zweifelhaften Gericht? Wer weiss das schon, wenn es so einfach ist, einen giftigen Pilz in das Essen einzuschmuggeln?
Jetzt stelle man sieh vor, diese drei Verse fehlten: Um wieviel herben Witz ärmer wird diese ganze Satire, in der Juvenal die verzweifelte Lage eines armen Klienten, der vom Patron zueinen Diner eingeladen worden ist, schildert! Ist es nicht eine Genugtuung für den bedauernswerten Klienten, dass er selber zwar bei diesem Gericht das Würgen bekommt, dass aber auch der „freigiebige“ Gastgeber bei diesem Essen um sein Leben bangen muss? Die Gehässigkeit der Formulierung „… post quem nihil amplius edit“ ist unübertroffen; in dieser unterkühlten Feststellung wird nahezu die Hoffnung deutlich, dass auch der verhasste Patron bald nichts mehr isst7. Würde man diesen Vers streichen, verlöre die ganze Passage die Pointe. Es ist mir unverständlich, dass (Heinecke 1804), der nur bei einer seiner vier Athetesen (3, 281) die Zustimmung anderer Editoren (Housman, Knoche und Clausen zugleich) gefunden hat, diese drei Verse athetieren konnte, überhaupt, dass man an diesen Versen „ … schon seit langem Anstoss genommen (hat)“ (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 154). Knoche hat in seiner Edition von 1950 diese seine Auffassung aus den „Grundlagen“ etwas zurückgenommen: Aus der versteckten Zustimmung zu Heineckes Athetese von v. 146 bis 148 ist die Annahme geworden, dass v. 148 vielleicht zu streichen sei: wahrscheinlich, weil v. 148 in fünf Handschriften - darunter dem wichtigen Urbinas U – fehlt.

Ohne jetzt die Argumentation gegenüber anderen Fällen (z. B. 6, 126, siehe unten) nach Gutdünken umdrehen zu wollen: Spricht hier nicht alles dafür, das Fehlen des Verses in einigen wenigen Handschriften als zweitrangig gegenüber den inhaltlichen Argumenten zu erachten? Kann v. 148 nicht ohne weiteres von einem Redaktor aus Unverstand gestrichen worden sein? Vielleicht war er der Meinung, v. 148 sei überflüssig, da es nur um die sozialkritische Gegenüberstellung der Speisen gehe?

Eine Dezenzinterpolation: 6, 125-126

 

… [Messalina] tunc nuda papillis

prostitit auratis titulum mentita Lyciseae

ostenditque tuum, generose Britannice, ventrem.

excepit blanda intrantis atque aera poposcit.

continueque iacens cunctorum absorbuit ictus.

mox, lenone suas iam dimittente puellas,

tristis abit.

125-126 del. Ribbeck; 125 del. Jachmann; 126 del. Knoche.

Lit.: (Hermann 1873, XXIV); (Bücheler 1930, 265); (Knoche, (Rezension der Housman-Edition) 1933, 102); (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 199 ff); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940)  45, 54, 100, 301, 304, 323).

An dieser Stelle wird ein anderes Problem der Überlieferungsgeschichte deutlich: die sogenannte Dezenzinterpolation. Es geht hier um die Vorgänge im Bordell, die zusätzliche Brisanz dadurch erhalten, dass eine berühmte oder vielmehr berüchtigte Person, nämlich Messalina, die Gattin des Kaisers Claudius, die Hauptrolle spielt. Juvenal zerrt ihre Bettgeschichten hervor, um zu demonstrieren, dass selbst eine Kaiserin nicht besser ist als all die anderen Ehefrauen, nämlich genauso ehebrecherisch oder vielmehr noch schlimmer: Messalina verwandelt sieh von Zeit zu Zeit in eine Dirne. Was allerdings dann im Bordell genau vor sich ging, das zu entscheiden, ist den Textkritiker überlassen; denn Juvenals ursprünglicher Wortlaut ist wahrscheinlich nicht eindeutig zu beweisen.

Das erste Argument erhält der Leser in der Korrektur des eindeutigen „prostitit“ (v. 123) in das triviale „constitit“, eine Korrektur, die wie die in 7,99 f von Omega her in P eingedrungen ist. Eigentlich wäre mit „prostitit“ schon alles gesagt, aber Juvenal geht noch weiter ins Detail; Messalina zeigte ihren Körper, und in dem lückenlos überlieferten v. 125 heisst es dann: „excepit blanda intrantis atque aera poposcit“. Jachmann8 beanstandet an diesem Vers, dass er syntaktisch mit dem Vorausgegangenen nicht verbunden ist, dass er „matt und bildlos“ ist und dass er die Interpretation aufkommen lasse, Messalina wolle die Hetäre nur spielen. In einem Punkt ist Jachmann zu korrigieren: „excepit“, das Jachmann mit „empfangen, begrüssen“ übersetzt hat und das in dieser Bedeutung allerdings recht matt ist, kommt in einer Stelle der Horazsatiren in einer recht drastischen Bedeutung vor: etwa: „sich begatten lassen“9; ausserdem kann „blanda“ nicht nur „lächelnd, liebreizend“, sondern auch „verführerisch lockend“ heissen. Es liesse sich daher, wenn man zusätzlich „intrantis“ pointiert auffasst10, diesem Vers ein sehr drastischer Unterton unterstellen. Allerdings - und das verbietet eigentlich diese hintergründige Interpretation - ist es nicht Juvenals Gewohnheit, besonders in dieser Satire, in der es um die Sexualität der Frau geht, Dinge nur anzudeuten und dem Leser zu überlassen, das Gemeinte herauszufinden11. Deswegen ist v. 125 wohl doch in einfachen Sinne zu nehmen: „sie empfing liebreich die Eintretenden und verlangte Geld.“ Nun merkt man jedoch sofort, dass diese Aussage nicht allzu gehaltvoll ist: wenn schon Details, dann aber auch die richtigen; Willkommensgruss und Honorarforderung sind ja wohl nicht kennzeichnend für den Bordellbetrieb. Das Eigentliche wird in v. 126 ohne Umschweife geschildert; „Und im Liegen nahm sie fortwährend die Stösse aller (Männer).“ Das ist doch der Höhepunkt und vorläufige Abschluss dieser Passage; dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Die Bedenken, die (Knoche, (Rezension von Perret und Vianello) 1928, 102) zu diesem Vers hat, sind nach meinem Dafürhalten nicht allzu schwerwiegend:

Es ist nicht notwendig, „continue“ mit „iacens“ zu verbinden: es gehört doch eher zu „absorbuit“, wie „lassata viris“ (v. 130) bestätigt;

Eine Parallele zu „absorbuit ictus“ habe ich nicht gefunden, aber zu jedem der beiden Wörter gibt es einschlägige Parallelen: „crassibus … semen non tam prolixo provolat ictu“ (Lucr., 4, 1215) und „... meretricem acerrume aestuosam: absorbet ubicumque attigit“ (Plaut., Bacch. 471);

wenn es „cuncti“ (oder „multi“ in einer Handschrift bei (Poelmann 1565)) heisst, so ist das nicht dahergeschwätzt: gemeint ist, dass jeder beliebige Messalina haben konnte, wenn er wollte.

Nun noch zu dem Argument Jachmanns, Vers 125 verstosse gegen die Reihenfolge der Vorgänge: In der Tat ist der Kontext von v. 122 b bis 130 nicht besonders klar und - wenn nicht widersprüchlich - so doch ungeordnet: Zu viele Details von unterschiedlichem Aussagewert und -niveau werden darin aneinandergereiht. Um Klarheit zu schaffen und um vor allen Dingen die Stilebene einzuhalten, bleibt seines Erachtens nichts anderes übrig, als v. 125 zu streichen und v. 126 beizubehalten. Zwar spricht die Tatsache, dass v. 126 nur in Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefert ist, dagegen. Aber er konnte von Juvenal sein. Housmans Erklärung: „the verses IV,8 … are verses which Juvenal cannot indeed have written as they stand, but which nevertheless it is absurd to call interpolated, because no intarpolator could have written them either.“ (Housman 1931, XXXII) liesse sich hier folgendermassen umdrehen: Vers 126 kann sowohl von Juvenal aus auch von einem Interpolator stammen und darf daher auch nicht athetiert, sondern höchstens angezweifelt werden. Jachmann meint, dass v. 126 wie viele andere Verse der antiken Dichtung der Dezenzinterpolation zum Opfer gefallen ist, die den „Schmutzvers“ (Bücheler 1930, 265) nicht verantworten wollte (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 199 ff).

Eine endgültig Entscheidung über Echtheit oder Unechtheit dieser beiden Verse erscheint mir nicht möglich. lch würde meinen, dass v. 126 möglicherweise echt und v. 125 sicher interpoliert ist.

Interpoliert oder lückenhaft?: 6, 460

 

Nil non permittit mulier sibi, turpe putat nil,

cum viridis gemmas collo circumdedit et cum

auribus extentis magnos commisit elenchos.

intolerabilius nihil est quam femina dives.

interea foeda aspectu ridendaque multo

pane tumet facies …

dell. Paldamus; Knoche, Clausen.

Lit.: (Teuffel 1889, 557); (Winterfeld 1899, 160); (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 66); zu v. 461 bis 463: (Madvig 1887, 556 f); (Housman 1931, 55).

Hier trifft man auf einen Vers, der wohl deshalb athetiert worden ist, weil er allzu sentenzenhaft wirkt: „Nichts ist unausstehlicher als eine reiche Frau.“ Dieser Vers, so stellt man sich vor, könnte am Anfang oder Ende einer Tirade gegen Frauen stehen, die mit ihrem Reichtum nichts anderes anzufangen wissen, als ihn auffällig zur Schau zu tragen, damit anderen Menschen zur Last fallen, ihn für wahnsinnige und verrückte Dinge auszugeben und ähnliches mehr. In diesem Sinne hatte Juvenal vorher einen Typ von Frauen geschildert: „Alles erlaubt sich eine Frau, kennt keine Scham, wenn sie Smaragde um ihren Hals legt und grosse Perlengehänge an ihre ausgeweiteten Ohren hängt.“ (v. 457 bis 459). Hieran schliesst sich v. 460 einigermassen gut an, wenn man auch überrascht ist, dass schon nach diesem einen Satz Juvenal ein Resumee abgibt12. Wenn man jedoch v. 460 mit den folgenden Versen in Zusammenhang bringen wollte, stösst man auf erhebliche Schwierigkeiten: Dort ist von Teigauflagen, Salben, Eselsmilch und anderen Kosmetika die Rede, mit denen sich die Ehefrau pflegt. Der Gedanke, dass diese Mittel teuer sind, ist nur eine schmale Brücke zu v. 460, geht es doch hier um Frauen, die ihre frühere jugendlich blühende Schönheit mit Kompressen u. ä. künstlich zu erhalten suchen, um dem Liebhaber zu gefallen.

Die Überlegung Teuffels, dass nach v. 460 einige Verse ausgefallen sind, scheint mir einleuchtend; (Teuffel 1889, 557) schreibt:

„Durch die Streichung des viel citierten und wenig befolgten Verses 460, wie sie Paldamus vorschlägt, wird zwar dem Dichter ein berühmter und tadelloser Vers geraubt, in der Hauptsache aber nichts gebessert. Und doch kann ebensowenig der handschriftliche Bestand richtig sein, wegen des interea. Ich vermute, dass der ähnliche Anfang der beiden Verse intolerabilius etc. und interea etc. den Ausfall einiger dazwischen liegenden Verse herbeigeführt hat, worin die Unleidlichkeit einer solchen reichen und deshalb anspruchsvollen Frau und ihr ewiges Keifen mit ihrem Manne kurz ausgeführt war, worauf sich dann interea bezog: während sie aber so ihrem Mann das Leben sauer macht, bietet sie ihm selbst gar nichts; nur für ihren Buhlen hat sie Reize, der Mann bekommt sie nur in abschreckender Gestalt zu sehen.“

Wenn man Housmans Emendation folgt („dives / in terris. foeda …“), der für „in terris“ in der Bedeutung wie „überall“ einige Beispiele anführt13, dann ist zwar das „interea“ beseitigt; aber dadurch, dass jetzt v. 459, 460 und 461 ff direkt miteinander verbunden werden, wird die Aussage von v. 460 + „in terris“ vollkommen unerträglich. Dagegen hat man, wenn man nach v. 460 eine Lücke annimmt, die Möglichkeit v. 460 als sinnvoll zu behaupten - und dass v. 460 ein gescheiter Gedanke ist, steht doch wohl ausser Zweifel, auch für Housman.
Sicher, man könnte jetzt einwenden: Gerade, weil jedermann dem Inhalt von v. 460 zustimmen könnte, kann dieser Vers auch von jedem anderen hineingeschmuggelt worden sein; damit ist aber nicht bewiesen, dass v. 460 auf keinen Fall von Juvenal stammt14, erst recht nicht die Schwierigkeit mit „interea“ aus dem Wege geräumt. Ich würde daher für die Echtheit von v. 460 plädieren und für eine Lücke nach diesem Vers, in der ungefähr das stand, was Teuffel ausgeführt hat.

Mangelnde Lateinkenntnisse: 7, 101

Vester porro labor est fecundior, historiarum

scriptores? perit hic plus temporis atque olei plus;

nullo quippe modo millensima pagina surgit,

oumibus et crescit multa damnosa papyro:

sic ingens rerum numerus iubet atque operum lex.

 

del. Knoche

Lit.: (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940)130, 132, 145); (Hofmann 1951, 80).

An dieser Stelle behandelt Juvenal das Schicksal der Historiker seiner Zeit. Nachdem er ausfuhrlich geschildert und beklagt hat, dass die Poeterei eine brotlose Kunst gewerden sei und die Dichter darauf angewiesen seien, sich und/oder ihre Werke zu verkaufen, nimmt Juvenal auch den Historikern die Illusion, mit Geschichtsschreibung ausser Ruhm auch noch Geld verdienen zu können.

Für die Beurteilung von v. 101 ist der Kontext von grosser Wichtigkeit. Daher stelle ich für die Verse 99 und 100 die Fassungen von P/Q und Omega gegenüber:15

Version a)

Version b)

P1 und Q1: scriptores. perit hic plus temporis atque olei plus

Omega, P2, Q2: scriptores. petit hic plus temporis atque olei plus

P1 Q: nullo qippe modo millensima pagina surgit

Omega, P2: namque oblita modi millensima pagina surgit

Je nachdem, welcher Lesart man folgt, ergibt sich eine recht unterschiedliche Argumentationshaltung:

v. 98-100, 102 mit der Version a):

„Bringt denn eure Arbeit mehr ein, ihr Geschichtsschreiber? Hierbei geht doch (noch) mehr Zeit und (noch) mehr Öl darauf; denn keineswegs entsteht die tausendste Seite: So schreiben es (aber) die ungeheure Masse der Fakten und die Regeln eurer Kunst vor.“

v. 98-102 mit der Version b):

„Bringt denn eure Arbeit mehr ein, ihr Geschichtsschreiber? Einer (aus eurer Zunft) verlangt nach mehr Zeit und Öl, denn ohne jedes Mass entsteht die tausendste Seite und das Opus wächst (euch) allen ohne Rücksicht auf das viele Papier: So verlangen es (aber nun einmal) die ungeheure Masse der Fakten und die Regeln eurer Kunst.“

Grundlegend für die Korrekturen in P und Q war das missverstandene „hic“ (v. 99): Während es ursprünglich die Bedeutung „hierbei“, d.h. bei seiner/eurer Arbeit, hatte, also naturlang war, hat der Interpolator nur Positionslänge vermutet und damit die Bedeutung „dieser“, d.h. ein Geschichtsschreiber. Deswegen musste er auch „perit“, das in dieser Verbindung schon bei Cicero16 vorkommt, in „petit“ ändern, wobei er sicher in den Glauben war, es habe ursprünglich auch „petit“ heissen sollen, sei aber nachlässig geschrieben. Ferner hat er die Bedeutung von „nullo modo“ = „keineswegs“ (Hofmann 1951, 80) verkannt und zu „namque oblita modi“ vereinfacht und zuletzt, als die Verse 99 und 100 den Sinn des unermüdlichen Schriftstellers erhalten hatten, noch v. 101 eingesetzt: Die Historiker achten weder auf die Seitenzahl noch auf ihr Portemonnaie. Die Verse 7, 27 f hatte er schon längst vergessen; dort heisst es nämlich von den Dichtern:

frange miser calamum, vigilata proelia dele,

qui facis in parva sublimia carmina cella.

Ein anderer Anhaltspunkt, um die Vorgänge, die zur Interpolation von v. 101 geführt haben, zu rekonstruieren, ergibt sich aus der Tatsache, dass Servius in seinem Aeneis-Kommentar zwar noch den ursprünglichen Wortlaut von v. 100 anführt, aber mit genau der Interpretation von „modus“, die der Angelpunkt des Missverständnisses ist; er schreibt: „modus finis: Iuvenalis nullo quippe modo millesima pagina surgit.“17 Diese Stelle legt den Gedanken nahe, dass v. 101 schon interpoliert sein konnte auf Grund des missverstandenen „nullo modo“, bevor die Korrekturen in v. 99 und 100 vorgenommen worden waren, dass also die Korrekturen nur eine nachträgliche Ausrichtung auf v. 101 waren. Ausserdem lässt in v. 101 aufmerken, dass laut ThLL „damnosus“ in der Bedeutung „damnum inferens“ mit dem Ablativ nur noch bei Rutilius Namatianus18 vorkommt. In Verbindung mit der falschen Interpretation des Servius, der sicher auch andere seiner Zeit zum Opfer gefallen sind, liesse sich jetzt spekulieren, dass der Interpolator, der v. 101 eingeschoben hat, das Carmen de reditu suo gekannt and benutzt hat; das wiederum würde die Entstehung der Interpolation auf den gallo-römischen Raum und die Zeit nach 417 n. Chr. festlegen, das Jahr, in dem Namatianus seine Reise nach Gallien unternahm (Namatianus 1933).

Knoches Beobachtungen weisen allerdings in die entgegengesetzte Richtung; „Sie (sc. die Grammatiker des 4./5. Jhdts.) haben … dafür gesorgt, dass sich keine einzige Versinterpolation aus der Seit nach (!) der Redaktion von Phi in unsere gesamte (!) handschriftliche Tradition hat einschleichen und dort festsetzen können.“ (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 78).

Daraufhin kann man nur folgern, dass, da v. 101 in allen Handschriften vorkommt, dieser Vers eben schon früher, d.h. vor der Redaktion von Phi (ca. 390 n. Chr.), vorhanden gewesen sein muss, dass „damnosus“ bei Namatianus eine Juvenal-Reminiszenz19 ist und nicht umgekehrt, und dass die Korrekturen in v. 99 und v. 100 beträchtliche Zeit später in Omega eingedrungen und noch viel später vom Korrektor von P ( und auch von dem in Q) in den Text übernommen worden sind (Knoche 1940, 84).

 

Zum Schluss:

Eine Doppelfassung am Anfang der achten Satire: 8, 4-9

Es scheint mir notwendig, der Erörterung über diese Passage die verschiedenen Formen des überlieferten Textes vorauszuschicken. An den stark untereinander divergierenden Überlieferungen wird deutlich, dass es unterschiedliche Ausgangspositionen in der Überlieferung erst nach Phi gegeben hat:

P1

4

et Curios iam dimidios umerosque minorem

5

Corvinum et Galbam auriculis nasoque carentem.

6

quis fructus, generis tabulas iactare capaci

7

Corvinum posthac multa contingere virga

8

fumosos equitum cum dictatore magistros,

9

si coram Lepidis male vivitur …

P2

4 nasumque, 5 Corvini, 6 tabula, 8 famosos

Omega

4

et Curios iam dimidios nasumque minorem

5

Corvini et Galbam aurlculis nasoque carentem.

6

quis fructus, generis tabula iactare capaci

7

(Fabricium posthac multa contingere virga)

8

famosos equitum cum dictatore magistros

9

si coram Lepidis male vivitur …

G1

4

et Curios iam dimidios umerosque minorem

7

Corvini post haec multa contingere virga

8

fumosos equitum cum dictatore magistros

9

si coram Lepidis male vivitur …

Gc

5-6 nachträglich beigeschrieben, 8 famosos

U 1

4

et Curios iam dimidios umerosque minorem

5

Corvinium et Galbam auriculis nasoque carentem

7

Corvinum posthac multa contingere virga

8

fumosos equitum cum dictatore magistros

9

si coram Lepidis male vivitur …

U 2

6 nachgetragen

Daraus lässt sich folgendes rekonstruieren:

P1 hatte von Phi den ursprünglichen Wortlaut und Umfang übernommen. Omega interpolierte in „nasumque“ (v. 4), „Corvini“ (v. 5), „famosos“ (v. 8); von zweiter Hand wurden diese Interpolationen auf P übertragen (Knoche 1940, 84).

Einige Handschriften der Vulgatrezension führen v. 7 nicht mit; andere behalten ihn, interpolieren aber in „Fabricium“: dadurch sollte die - unmotivierte - Wiederholung von „Corvinum“ beseitigt werden20; unmotiviert erscheint sie aber nur, wenn v. 7 - und damit v. 6 bis 8 - schon im fortlaufenden Text enthalten waren. Damit steht also fest, dass v. 6 bis 8 bereits in Phi fester Bestandteil des Textes gewesen sind.

In G1 fehlten ursprünglich v. 5 und 6, in U1 v 6. In G kann der Fehler auf einem Augensprung („Corvin-“ v. 5, „Corvin-“ v. 7) beruhen; weshalb gerade nur v. 6 in U ausfiel, kann ich mir nicht erklären.

Auffallend an G1 ist, dass diese Handschrift in v. 7 „Corvini“ hat. In Verbindung mit dem richtigen „umerosque“ (v. 4) kann man sich vorstellen, dass der Schreiber von G zwei Vorlagen (oder eine Vorlage, aus zwei Klassen kontaminiert) vor sich liegen hatte (Knoche 1940, 374): eine XSI-Fassung mit „Corvini“ (v. 5) und eine PI / GAMMA - Fassung mit „umerosque“ (v. 4): Die Kontamination daraus, verbunden mit einem Augensprung, ergab dann „umerosque minorem / Corvini post haec …“ Aufs ganze allerdings gesehen, scheint der Ausfall von v. 5 und 6 nur ein Sonderfehler zu sein, der keinen Aufschluss über die ursprüngliche Textgestalt gibt, sondern höchstens die Fehlerquellen und Unsicherheiten in der Tradition offenbart. (Knoche 1940, 154)

Wie aus Punkt 2 erkennbar wird, hat der Einschub von v. 6 bis 8 bereits vor Phi stattgefunden; die Varianten in der Vulgatrezension („nasumque“, „Corvini“, „Fabricium“, Ausfall von v. 7, „famosos“) scheinen nach Phi, also von der Vulgatrezension selber, vorgenommen worden zu sein; zwar lassen die Zeichen, die Knoche in G und U festgestellt hat, die nach seiner Meinung Ähnlichkeit mit Adnotationszeichen haben, darauf schliessen, dass vielleicht auch in … solche Zeichen neben einigen Versen standen, aber nicht unbedingt darauf, dass in Phi Varianten im Text oder neben dem Text zitiert waren: denn sonst wäre davon noch etwas in P1 festzustellen. P1 hat aber ausser dem kleinen Fehler „tabulas“ (v. 6) keine vom richtigen Text abweichenden Lesungen. Demnach geben auch diese Omega-Varianten nur einen Hinweis darauf, dass der Vulgatredaktor mit dem ihm vorliegenden Phi-Text nicht zu Rande kam: Den schwerverständlichen Wortlaut hat er zu vereinfachen versucht (Knoche 1940, 300).

Es ist also notwendig, bei der Erörterung von v. 6 bis 8 von der in Phi (= P1) vorliegenden Textgestalt auszugehen, d. h. zu beweisen, dass v. 1 bis 5, 9 - so wie sie z. B. in der Knocheschen Ausgabe gedruckt sind - die originale Fassung darstellen und dass v. 6 bis 8 - ebenso in dem Knocheschen Druckbild - interpoliert sind.

Das erste Argument für eine Interpolation bezieht sich auf die Namen: Es fällt auf, dass in v. 3 bis 5 allein vier Namen genannt werden, in v. 6 bis 8 dagegen nur einer (der dazu noch in der ersten Namenreihe erschien), und dass in v. 9 wieder ein Name genannt wird. Nach Jachmanns Untersuchungen scheint es eine weitverbreitete Gewohnheit der Interpolatoren gewesen zu sein, „Namen von Personen oder Dingen mythologischer, historischer oder geographischer Art, die sich im Text vorfanden, zu beseitigen oder auch durch andere allgemein bekannte zu ersetzen.“21 Lässt man auf v. 5 v. 9 folgen, so ergibt sich eine stattliche Reihe von Namen bekannter oder gar berühmter Römer, die für ihre Zeitgenossen Verkörperungen der virtus waren: Mit Aemilianus ist nach MAYOR der Adoptivsohn des Scipio Africanus maior P. Cornelius Scipio Aemilianus Africanus minor gemeint, mit Curius M’ Curius Dentatus, der Gegner Pyrrhus’, Corvinus wird bei Lucan zusammen mit den Lepidi und Metelli zu den „summi homines“ gerechnet22; M. Lepidus wird von Cicero wegen seiner virtus und seiner familiae dignitas gerühmt (Phil. XIII,7). Dahinein sind nun v. 6 bis 8 gesetzt; und dass sie nicht hierhin gehören, kann nun nicht mehr bezweifelt werden. Die Frage ist nur, ob sie als Autorenvariante (Leo 1909, 610) oder als Interpolation (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 192 f) anzusehen sind, d.h. ob sie eine gleichwertige Ersatzfassung für v. 1 bis 5 darstellen oder nicht.

Die Konstruktion von v. 1 und 2 ist in v. 6 bis 8 wiederholt: Dem „quid prodest“ entspricht „quis fructus“, dem „ostendere“ das „iactare“, dem „contingere“ das „censeri“; inhaltlich sind die Namen zu Ämtern geändert worden („magistri equitum“, „dictator“) Was allerdings den Stammbaum und die Ahnengalerie angeht, ist der Verfasser von v. 6 bis 8 ungenau geworden (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 192 ff): Zum ersten spricht er von einer „generis tabula capax“, einer Ahnentafel, auf der wohl die Namen der Vorfahren verzeichnet gewesen sind und die nach unserer Stelle ziemlich umfangreich war; trotzdem kann der in diesen Versen gemeinte in der ganzen Menge nur einen Corvinus aufweisen.

Dann kann er über mehrere Linien die Verwandtschaft mit „magistri equitum“ und einem „dictator“ aufzeigen. Diese werden mit dem Adjektiv ''fumosi“ versehen, das von Cicero und Boethius in Verbindung mit „imagines“ verwendet wird23. Bei diesen „imagines“ handelt es sich um die wächsernen Masken der Portraitbüsten der Ahnen, die an den Wänden der Seitengänge des Atriums in kleinen tempelartigen Schränken aufgestellt waren (Marquardt 1964, 243). Dass diese Portraitbüsten nun allesamt durch Linien verbunden gewesen sein sollen, wie Marquardt24 meint, scheint mir ein Ding der Unmöglichkeit: Eine solche Anzahl von Büsten, wie man bei einem altehrwürdigen Geschlecht erwarten kann, aufzustellen und dann auch noch übersichtlich an einer Wand zu ordnen, ist eine nicht zu bewältigende Aufgabe.
Der Sachverhalt, der hinter „fumosos“ (die Portraitbüsten) steht, lässt sich also nur sehr schwer mit dem, der hinter „virga“ (der Stammbaum) steht, verbinden.. Wenn man zudem noch hinter einem „dictator“ einen triumphator vermutet, wie der Aemilianus (v. 3) war, so wird er in einer lebensgrossen Plastik dargestellt gewesen sein, ähnlich, wie Juvenal selbst ein solches Denkmal in 7, 125 bis 128 schildert, das in vestibulum25 steht. In diesem Falle wäre in v. 8 der sachliche Hintergrund total durcheinander geworfen.

Man sieht also, dass in v. 6 bis 8 manches unklar bleibt: Die Schilderung der Stammtafel und der Portraits geht durcheinander. Juvenal dagegen hatte klar geschieden:

Schluss

Die Erörterung der athetierten Stellen (aus der ersten Hälfte des Satirenwerkes) hat gezeigt, wie schwierig die Beurteilung von echt oder unecht ist. Um die Argumentation voll auszuschöpfen, hatte ich zudem solche Stellen ausgewählt, die – mit Ausnahme von 6, 126 und des Anfangs der achten Satire - lückenlos überliefert sind. Denn wenn der Vers / die Verse in Handschriften fehlen, sind die Argumente für oder wider die Echtheit schon zur Hälfte gegeben: Das scheint mir ein wichtiger, wenn nicht gar der wichtigste,, Fortschritt in der Bewertung des Juvenaltextes seit den früheren Editoren (z. B. Friedländer, Jahn), und zwar dank Knoches und Jachmanns Forschungen, zu sein.

Dass der Text ganz und gar nicht so „vortrefflich erhalten (ist)“, wie (Friedländer 1895) meinte, darf allerdings nicht dazu führen, sozusagen per analogiam alles irgendwie Verdächtige zu tilgen. Ich meine, Housman hat das Richtige getroffen:

„If we desire to have it believed that a line has been inserted by a scribe, we must explain what the scribe meant by inserting it. If we cannot, and if the line is nevertheless insufferable, then it is not interpolated but corrupt.“ (Housman 1931, XXXII)

 

Literaturverzeichnis

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1 Referat im Oberseminar SS 1969 von Prof. Georg Luck, Bonn.

2 (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 72); (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 187 f).

3 In der "dell." - Zeile ist an erster Stelle jeweils der Editor genannt, der als erster die Stelle athetiert hat; es folgen die Editoren, die die Athetese übernommen haben.

4 (Leo 1909, ad loc.) unzutreffend wie auch zuu 6, 460 – siehe unten.

5 Zum Wortschatz wäre zu sagen, dass in v. 113 zwei Wörter vorkommen, die auch in anderen athetierten Versen erscheinen; "domus“ in 5, 66 und 11, 99 und "atque" in 11, 99 und 11, 161; ob dies ein Beweis für die Unechtheit sein kann, konnte im Rahmen dieses Referats nicht mehr untersucht werden. Knoches Bemerkung zu "atque" bei Juvenal (in: (Knoche, Die handschriftlichen Grundlagen der Juvenalüberlieferung 1940, 124)) leuchtet nicht so ganz ein.

6 Martial III, 50,5: „sunt tibi boleti, fungos ego sumo suillos.”

7 vgl. Martial I,20, 3 bis 4: „Quid dignum tanto tibi ventre gulaque praecabor?/ boletum qualem Claudius edit, edas.“  

8 der 126 für echt hält (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 200); ein weiteres Argument Jachmanns wird weiter unten behandelt.  

9 „excepit turgentis verbera caudae" Hor., sat. II, 7, 49.

10 vgl. Mart., III, 93, 27: „intrare in istum sola fax potest cunnum.“

11 siehe etwa 6, 309-311; 317-319; 334 u.ö.

12 Was (Leo 1909) ad loc. sagt ("nil tam molestum est quam uxor ditior quam maritus"), geht am Sinn total vorbei.

13 Juv., 8,37; 10, 279; 13, 126; Mart., X, 32, 6; Prop., Il, 17, 9; Hor., ep. II, 2,157; Housman ad loc.

14 - was ja die Aufgabe bei einer Athetese ist; vgl. auch die Diskussion über 6, 126 (siehe oben).

15 Da in Q die Versanfänge in diesem Abschnitt fehlen, kann man dort nur "... perit“ bzw. "... petit", und "… modo“ lesen.

16 Att. II,17,1: „verum … haec … non deflebimus, ne et opera et oleum philelogiae nostrae perierit.“

17 zu IV,98; in: (Stocker/Travis 1965, 285).

18 Helm (Namatianus 1933) übersetzt „damnosus“ im Apparat mit: „Einbusse an ... verursachend“.

19 wie einige andere mehr; vgl. Helm zu 1, 201 (wo es wohl Juv. 11, 199 heissen muss) und zu 1,429.

20 vgl. (Jachmann, Studien zu Juvenal 1943, 190) Wenn Housman, ad loc., in v. 7 „pontifices“ konjiziert und erklärt, „Corvinum“ hätten „P aliique ex u. 5“, so liegt er hiermit falsch: denn sollte P anstelle des - allerdings einleuchtenden – „pontifices“ das unerträgliche „Corvinum“ gesetzt haben?! Was soll der Grund dafür gewesen sein? Es ist ja wohl kaum anzunehmen, dass P den Stil verschlechtert hat, nur um „Corvinum“ von v. 5 noch einmal einsetzen zu können. Wenn korrigiert worden ist, wie z. B. in einem Teil der XSI-Redaktion, dann doch deshalb, um das „Corvinum“ loszuwerden, nicht um es zu erhalten!

21 (Jachmann, Eine Elegie des Properz. Ein Überlieferungsschicksal 1935, 207); Belege dazu S. 207 f und 228-240.

22 VII, 583-585.

23 Cicero, Pis., I,1: „Obrepsisti ad honores errore hominum, commendatione fumosarum imaginum, quarum simile habes nihil praeter colorem.“ – Boethius, Cons.1, pros. 1: „Quarum (sc. vestium) speciem, veluti fumosas imagines solet, caligo quaedam neglectae vetustatis obduxerat.“

24 a.a.O. Die Portraitbüsten waren „so geordnet und durch gemalte Linien verbunden, dass sie den Stammbaum der Familie darstellten.“ Die Seneca-Stelle, die er zitiert, lautet aber folgendermassen: „Qui inagines in atrio exponunt et nomina familiae suae longo ordine ac multis stemmatum inligata flexuris in parte prima aedium collocant, non noti magis quam nobiles sunt?“ Seneca unterscheidet die im Atrium befindlichen Büsten von den in der Vorhalle aufgestellten Stammbaum. - Es gibt eine Martial-Stelle, die Marquardt recht zu geben scheint: „argenti fumosa sui stemmata narrare“ (VIII,6,3), doch ist die Metapher zu surrealistisch als dass man sie in allem ernst nehmen müsste.

25 Entgegen der Meinung Marquardts kann Juvenal 8, v.1 bis 5, nicht als Beleg dafür bewertet werden, dass die Triumphatoren „zuweilen … auch in Atrium in ganzer Figur, stehend auf dem Wagen gemalt gewesen ... sein.“ (Marquardt 1964, 244).

26 vgl. Senecas Formulierung: „nomina ... longo ordine ac multis stemmatum inligata flexuris“.